Wirtschaft und Weiterbildung 11-12/2021
grundls grundgesetz Boris Grundl 56 wirtschaft + weiterbildung 11/12_2021 Unglaublich, mit welchem Tempo Komplexität und Transparenz zunehmen. Ständig prasseln Reize auf uns ein. Jeder einzelne schreit nach Aufmerksam- keit. Oder jeder Mensch, der einen Reiz überbringt. Und wehe, wir gehen auf die Menschen oder Einwir- kungen nicht aufmerksam genug ein. Dann werfen andere uns mangelnde Wertschätzung oder zu wenig Interesse vor. Ich bin mir sicher, das kommt Ihnen bekannt vor. Viele antworten auf diesen „Höher-schneller- weiter“-Wahn mit Selbstoptimierung. Das Denken bleibt gleich, nur die Schlagzahl erhöht sich. Das ist der Versuch, das zunehmende Arbeitsvolumen mit zunehmender Arbeitszeit zu beantworten: Erhöhung der Zeitquantität. So entstehen Firmenkulturen, in denen schnelle Reaktionen automatisch Anerken- nung auslösen. Eiliges Antworten wird zum Quali- tätsmerkmal. Wer auf einem Reiz nicht sofort ein- geht, wird reflexartig mit Missachtung bestraft. Die tiefere Wirkung der Konsequenz bleibt außen vor. Das führt zu Hektik und Aktionismus. Beschäftigt sein und viel zu tun zu haben, werden zu Statussym- bolen des Erfolgs – ein Teufelskreislauf. Doch es gibt auch eine andere Antwort auf die Zunahme an Tempo, Komplexität und Transparenz. Indem Menschen bewusst trainieren, eben nicht sofort zu springen. Natürlich nur dort, wo es auch Sinn macht: Wenn jemand ausrutscht, greife ich natürlich sofort, ohne nachzudenken, nach dessen Arm und stütze ihn. Doch in vielen Fällen lohnt sich tieferes Durchdenken. Trifft uns ein Reiz, gönnen wir uns innerlich Raum, bevor wir reagieren. Wir geben uns Zeit zum Nachdenken, um die Lage in ein großes Ganzes einzuordnen. Welche Bedeutung hat der Reiz für das übergeordnete Ziel? Oder handelt es sich um eine unnötige Ablenkung? Angela Merkel hat selten sofort auf eine Störung reagiert. Schon gar nicht öffentlich. Bei ihr hatte man das Gefühl, je mehr ein Reiz nach Aufmerksamkeit schreit, desto weniger reagiert sie direkt auf ihn. Das wurde ihr oft vorgeworfen. War sie deswegen weniger wirksam? Weil sie die Dinge jenseits der öffentlichen Auf- merksamkeit mit Ruhe und Bedacht im Hintergrund gesteuert hat? Ich denke nicht. Sie ist für mich ein Vorbild an Gleichmut. Immer wieder erlebe ich, wie Menschen eine verzögerte Reaktion als mangelndes Interesse deuten. Diese Leute verwechseln Gleichmut mit Gleichgültigkeit. Wer nicht sofort antwortet, signa- lisiert noch lange kein Desinteresse oder fehlende Identifikation. Vielleicht ist ein ruhiger, geordneter Geist gerade dabei, bewusst zu entscheiden, wie er mit einer Situation umgeht. Indem er überlegt, wo eigentlich der Kern in diesem Kontext liegt. Haupt- sache ist, dass die Hauptsache die Hauptsache bleibt, nannte es Steven Covey. Gleichmut üben bedeutet, die bewusste innere Reaktion auf einen Reiz wahrzu- nehmen und diesem ersten Impuls nicht zu folgen, sondern innezuhalten. Ruhe bewahren, innerlich einen Schritt zurück- treten, die Sache von außen betrachten, mit dem übergeordneten Ergebnis abgleichen und dann mit durchdachter Klarheit konsequent handeln. Bitte beobachten Sie andere einmal, wann sie mit Gleichmut oder Gleichgültigkeit reagieren. Bitte för- dern Sie Gleichmut bei sich und bei anderen. Diese innere Ruhe ist es, die wir in Zukunft brauchen. Aus „höher-schneller-weiter“ macht Gleichmut „flexibler- klarer-tiefer“. Paragraf 100 Übe Gleichmut! Boris Grundl ist Managementtrainer und Inhaber des Grundl Leadership Instituts, das Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Er gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung). Sein jüngstes Buch heißt „Verstehen heißt nicht einverstanden sein“ (Econ Verlag, Oktober 2017). Boris Grundl zeigt, wie wir uns von oberflächlichem Schwarz-Weiß-Denken verabschieden. Wie wir lernen, klug hinzuhören, differenzierter zu bewerten, die Perspektiven zu wechseln und unsere Sicht zu erweitern. www.borisgrundl.de Viele Menschen verwechseln Gleichmut mit Gleichgültigkeit und Desinteresse. „ „
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