Wirtschaft und Weiterbildung 11-12/2021
personal- und organisationsentwicklung 34 wirtschaft + weiterbildung 11/12_2021 und wie Führungskräfte mitgenommen werden können. Führungskräfte, denen es schwerfällt, die Grenzen ihrer (psy- chischen) Belastbarkeit anzuerkennen, transportieren diese Grundhaltung – gewollt oder ungewollt – weiter an die Mitarbeitenden. Wieviel schwerer fällt es, eine depressive Erschöpfung anzu- sprechen bei einer Führungskraft, die keinerlei Schwäche zeigt und grenzenlos belastbar scheint? Ich glaube nicht, dass ein Unternehmen das Thema Psyche aus der Tabuzone herausholen kann mit Führungskräften, die psychische Unver- wundbarkeit demonstrieren. Dabei sind Führungskräfte besonders gefährdet, ein Burn-out zu entwickeln. Gefährdungsbeurteilungen noch wichtiger als vor Corona Oft trifft hier eine hohe Leistungsbereit- schaft mit starken inneren Antreibern auf ein hohes Stress- und Belastungsniveau. Mitarbeitende beobachten sehr genau, wie ihre Vorgesetzten damit umgehen. Und wie wunderbar es anders funktionie- ren kann, zeigt mein Eingangsbeispiel. Viele Betriebe versuchen, die Gefähr- dungsbeurteilung psychischer Belastun- gen (GB Psych) zu umgehen, weil sie fürchten, damit „die Büchse der Pandora zu öffnen“. Das Thema psychische Belas- tungen macht umso mehr Angst, je weni- ger Erfahrung es damit gibt. Dabei liegen viele psychische Belastungen einfach nur in unzureichend gestalteten Arbeitsplät- zen oder schlecht organisierten Arbeits- und Kommunikationsabläufen, die mit wenig Aufwand zu beheben sind. Selbst für Konflikte finden sich oft gute Lösun- gen, kommen sie im Rahmen einer GB Psych zur Sprache. Belastungen, die im Zusammenhang mit den coronabedingten Veränderungen ste- hen, sollten unbedingt miterfasst werden. Hierzu können einfache, systematische Screenings genutzt werden, welche – er- gänzend zur herkömmlichen GB Psych – speziell die krisenbedingten Belastungen erfassen. Die verantwortungsvolle und prozesshafte Umsetzung der GB Psych durch die Führungskraft mit regelmäßiger Wirksamkeits- und Aktualitätsüberprü- fung ist ein klares Signal an die Beschäf- tigten: „Wir wissen, dass es psychische Belastungen gibt und wir nehmen diese ernst.“ Über das im SGB IX festgelegte Betrieb- liche Eingliederungsmanagement (BEM) sind Arbeitgebende verpflichtet, Beschäf- tigten, die in den letzten zwölf Monaten länger als sechs Wochen arbeitsunfähig waren, ein Gespräch zur Wiedereinglie- derung anzubieten. Ziel ist, Maßnahmen zu finden, mit denen die Arbeitsunfähig- keit überwunden und erneuter Arbeitsun- fähigkeit vorgebeugt werden kann. Damit diese Ziele erreicht werden können, ist es wichtig, dass die Beschäftigten Vertrauen in die Umsetzung haben und gerade psy- chische Erkrankungen kein Tabuthema sind. Sonst wiegeln die Betroffenen ein- fach ab, Maßnahmen, die erneuter Ar- beitsunfähigkeit vorbeugen könnten, wer- den so nicht gefunden. Auch hier kommt den Führungskräften wieder eine Schlüs- selposition zu. Um ein BEM sinnvoll zu nutzen, müs- sen die betroffenen Mitarbeitenden sich trauen, die Faktoren, die auf der Arbeit den Krankheitsverlauf negativ beeinflus- sen, offen anzusprechen. Auch wenn das der seit Jahren schwelende Konflikt mit der Führungskraft oder die permanente Überlastung durch zu viel Arbeit sind. Niedrigschwellige Beratungs- angebote helfen Ein weiterer Grund, warum psychologi- sche Erkrankungen oft verschwiegen wer- den, ist die Angst vor Repressalien. Vor einiger Zeit wurde einer meiner Kollegen von einem Unternehmen für Vorträge zur Suchtprävention angefragt. In der Vorbe- reitung darauf lasen wir in der vorhande- nen Dienstvereinbarung, dass gleich mit dem ersten Stufengespräch betriebliche Zusatzzuwendungen gestrichen werden. Was offenbart sich? Dieses Unternehmen sieht Abhängigkeit nicht als eine therapiebedürftige Erkran- kung, sondern als etwas, was diszipli- narisch unter Kontrolle gebracht werden kann. Ein Effekt dieser Vereinbarung wird sein, dass Betroffene alles tun werden, um ihre Probleme geheim zu halten. Das Beispiel zeigt aber auch, wie wichtig ein freiwilliges, anonymes und niedrig- schwelliges Beratungsangebot ist. Denn damit können auch Mitarbeitende abge- holt werden, die Angst vor Sanktionen oder Ähnlichem haben und für die psy- chische Erkrankungen tatsächlich noch Tabuthemen sind. Auch kleine Schritte können alle voranbringen Sicher sind viele Unternehmen noch weit entfernt von einem wirklich offenen Um- gang mit psychischen Belastungen oder gar Erkrankungen. All die guten Bei- spiele machen aber Hoffnung – immer mehr Führungskräften scheint ihre zen- trale Rolle bei diesem Thema bewusst. Letztendlich geht es gar nicht um ein Entweder – oder. Es geht nicht um große Umwälzungen oder einschneidende kul- turelle Veränderungen. Es geht um kleine Schritte in die richtige Richtung. Gerade jetzt zu Coronazeiten. Kerstin Hillbrink R Alkoholsucht. Mit disziplinarischen Mitteln nicht unter Kontrolle zu bringen.
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