Wirtschaft und Weiterbildung 11-12/2021
titelthema 20 wirtschaft + weiterbildung 11/12_2021 New Work. Es existierten keinerlei valide Daten, die belegten, dass in Deutschland eine spürbare Verlagerung vom Ange- stelltendasein in die Selbstständigkeit stattfinden würde. Die Behauptung, dass es durch Phänomene wie Plattformarbeit und Crowdworking vermehrt zu prekären Arbeitsverhältnissen komme, trage nicht weit. Frischmuth folgert daraus, dass die Arbeitswelt sich weniger verändert, als landläufig angenommen. Den Mythos der Selbstständigenschwemme hält er zudem für gefährlich: Damit schüre man Angst vor einer Unternehmensgründung: „Durch die geringere Anzahl an Grün- dungen entstehen prognostisch weniger neue Arbeitsplätze in den Folgejahren.“ New-Work-Kritik entspricht der populären Meinung Mit diesen Kritikpunkten reiht sich Frischmuth in die Reihe der Autorinnen und Autoren ein, die bereits Bullshit- Stempel auf einge Trends der Arbeitswelt verteilt haben. Dabei basieren viele Kri- tikpunkte auf populären Meinungen und Trendphänomenen, die nicht alle New Work zuzuschreiben sind. Frischmuth bringt Schwung in die Debatte, indem er bekannte Schwierigkeiten und Fehlein- schätzungen übersichtlich zusammen- fügt. Als Personaldienstleister gilt sein Hauptaugenmerk den Fach- und Füh- rungskräften. Das färbt sein Narrativ, bei- spielsweise, wenn er Netflix als Beispiel dafür anführt, dass es auf hochkarätige Talente wie herausragende Softwareent- wickler ankommt. Erfahrung schlägt agile Methode, so das Credo des Hays-Mana- gers. Im „War for Talents“ brauche es Einwanderung, Bildung und Upskilling. Doch letztlich könnten Unternehmen nur bestehen, wenn sie drei Dinge mei- stern könnten: Führung, Kommunikation und Kultur. Anders als viele New Worker möchte Frischmuth nicht am Status quo rütteln. Durch den Titel seines Buchs schwimmt er allerdings auf der New- Work-Welle mit, ohne der Debatte etwas fundamental Neues hinzuzufügen. Eine Vision, wie eine Arbeitswelt in Zukunft aussehen könnte, wenn Digitalisierung, demografischer Wandel und Klimawan- del voranschreiten, bietet er nicht. Dieses Vakuum versuchen andere zu füllen. Ein Gegenentwurf „Arbeit ist noch immer (ungewollte) Ster- behilfe“, schreiben der Ex-ING-Manager Otti Vogt und Professorin Antoinette Weibel von der Universität St. Gallen in einem Artikel des Personalmagazins. Selbst 50 Jahre „neue Arbeit“ und un- zählige Umstrukturierungen, Agilitäts- maßnahmen und Yogakurse hätten daran nichts geändert. Sie zitieren den ameri- kanischen Organisationsforscher Jeff Pfeffer: Er meint, schlechte Jobs kosten Leben. Arbeitsstress ist in den USA die fünfthäufigste Todesursache. Laut einer kürzlich bei McKinsey erschienenen Stu- die, vermissen über 70 Prozent der Be- fragten den Sinn ihrer täglichen Arbeit. Das möchten Vogt und Weibel nicht hin- nehmen und haben sich zusammengetan, um Ideen für gute Arbeit in dem (Buch-) Projekt „GoodOrganisations.com“ zu bündeln. Dabei kommen sie teilweise zu einer ähn- lichen Analyse wie Frischmuth: Ein neues Menschenbild und agile Praktiken ge- nügten nicht. Sie gehen dann aber einen Schritt weiter. Es gehe nicht nur um einen Kulturwandel, sondern um das Weltbild in Unternehmen – also um Macht- und Entscheidungsstrukturen, etwa in Form von Boni für Führungskräfte und Zielvor- gaben für Mitarbeitende. Wie aus der Komplexitätstheorie bekannt, könnten partielle Lösungen kaum weiter- helfen. Vogt und Weibel werfen deshalb einen Blick in die Geschichte der Frage, was Arbeit wirklich bedeutet: Von der Unwürdigkeit körperlicher Arbeit in der Antike über das Mittelalter, in dem Arbeit als dem Gebet ebenbürtig galt, und die Reformation, die die Güte des Menschen am Erfolg seines Schaffens abliest und Müßiggang als Sünde geißelt, bis zum Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, in dem der Mensch für die Arbeit da ist und nicht umgekehrt. „Immer häufiger wer- den wir selbst zu ‚fröhlichen Sklaven‘: Im blinden Glauben an ‚Freiheit durch Reich- tum‘ mutieren wir zu uns ständig selbst- verbessernden Minikapitalisten im Kampf um die besten Karrieren“, schreiben Vogt und Weibel. „Gute Arbeit“ könne folglich nur entstehen, wenn Unternehmen bereit wären, ihre Glaubenssätze grundlegend zu hinterfragen. Was „gute Arbeit“ heißt Bei der Definition von „guter Arbeit“ greift das Autorenduo auf Aristoteles zu- rück: Der Zweck des Menschen sei es, sein höchstes menschliches Potential zu entfalten und Glückseligkeit (Eudämonie) zu erlangen. „Ein gutes Leben heißt, nach Exzellenz zu streben: gesund zu sein, die eigenen geistigen und charakterlichen Qualitäten zu kultivieren, Freundschaften zu pflegen und sich innerhalb der Gesell- schaft zu verwirklichen.“ Die Charakter ethik von Aristoteles fordere moralische Integrität. Ehrenvolles Handeln und gute Arbeit ist das Ziel, weil sie Freude berei- tet und einen Beitrag zum Gemeinwohl leistet. Eine solche Lebendigkeit können Unter- nehmen laut Vogt und Weibel auf drei Ebenen schaffen: als bewusster Teil der Gesellschaft, der Verantwortung für das Gemeinwohl trägt; als sozialer Lebensmit- telpunkt für die Organisationsmitglieder, das deren Wachstum fördert; als Hüterin der Entfaltung des Einzelnen, indem sie Möglichkeiten schaffen, dass Menschen Talent und Kreativität in das Unterneh- men einbringen. „Dabei geht es nicht um das Balancieren von ‚Purpose und Profit‘, das Hinzufügen einer Handvoll weiterer Stakeholder zum Jahresbericht und schon gar nicht um die Einhaltung detaillierter Regulierungsstandards, sondern um die Lebendigkeit und das Gedeihen des ge- samten betrieblichen Ökosystems.“ Das R Neuerscheinung. Mit seinem Buch fasst der Autor Carlos Frischmuth viele populäre Kritikpunkte an New Work zusammen.
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