Wirtschaft und Weiterbildung 11-12/2021

wirtschaft + weiterbildung 11/12_2021 15 und aus. Er war international bekannter als fast alle Heidel- berger Professorenkollegen in höheren Besoldungsgruppen, sodass die, wenn sie denn in fremde Länder kamen, gefragt wurden, ob sie bei Helm Stierlin arbeiteten. Ein Abenteuer, das er sich nicht entgehen ließ Stierlin war im Blick auf die Auswahl seiner Mitarbeiter ex- trem eigensinnig. Er fragte niemanden und ließ sich dabei nicht hineinreden. Er stellte dabei nur Menschen ein, die etwas konnten, was er nicht konnte (zum Beispiel Kongresse orga- nisieren). Dabei sorgte er für eine große Variationsbreite. Wir, die wir dann zusammenarbeiten mussten/durften, hätten uns gegenseitig niemals ausgesucht. Aber in der Kooperation ge- lang es Helm, unsere Unterschiede fruchtbar werden zu lassen, indem hierarchiefrei kommuniziert wurde. Jeden Dienstag sahen wir zum Beispiel gemeinsam in einem Forschungsprojekt Familien mit einem Mitglied, das mehrfach mit der Diagnose „manisch-depressive Psychose“ hospitalisiert worden war. Bei der Diskussion und der Reflexion unserer Er- fahrungen konnte jeder alles, was er wusste, und alle Ideen und Erkenntnisse, die er zu haben meinte, ungefiltert in die Kommunikation bringen, und er nahm in der Summe immer mehr mit, als er hineingegeben hatte. (In Zeiten, in denen ge- gendert wird, fällt vielleicht auf, dass ich hier stets das Masku- linum verwende, und es ist nicht generisch, denn wir waren so etwas wie eine Boygroup – vom Alter her passt der Begriff natürlich nicht, da wir alle gestandene Fachärzte und Fami- lienväter waren, aber vom „Spirit“ schon. Frauen hatten da keine Chance, einen Job zu bekommen, vielleicht, weil Helm zuhause von Frauen umgeben war: Mutter, Frau, Töchter). Es war eine Gruppe von „Jungs“, die der Spaß verband, gegen den Strom zu schwimmen und Neues zu denken und zu tun, die - mit festem Boden unter den Füßen, den einem das Durch- laufen der damals etablierten und seriösen Ausbildungen ver- mittelte - Freude am Experimentieren hatten. So war es auch klar, dass 1989, als wir die verrückte Idee hat- ten, einen Verlag zu gründen, Helm zu den Gründern des Carl- Auer-Verlags gehörte - wieder ein Abenteuer, das er sich nicht entgehen ließ. Dass diese Gruppenprozesse in unserem thera- peutischen Team für uns kollektiv wie individuell so fruchtbar waren, liegt zu einem guten Teil daran, dass Helm, obwohl formal unser Chef, bei der Diskussion von Sachfragen keiner- lei Anspruch zeigte, dass seinen Ideen oder Konzepten eine höhere Wichtigkeit zugebilligt werden müsste als unseren. So kam es, dass wir all die Modelle, die er in den 30 Jahren vorher entwickelt hatte, wenig bis nicht zur Kenntnis nahmen. Ihm war das recht, denn er wollte ja inhaltlich weiterkommen und bedurfte nicht der Bestätigung durch uns. Ich muss gestehen, dass ich etliche seiner Konzepte erst viel später, nach unserer Zusammenarbeit, angemessen zu würdigen lernte. Prof Dr. Fritz B. Simon Buchtipp. Über Stierlins fach- liche Verdienste gibt das Buch „Helm Stierlin – Zeitzeuge und Pionier“ von Michael Reitz (Carl-Auer, Heidelberg 2014, 175 Seiten, 19,95 Euro) aus- führlich Auskunft.

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