Wirtschaft und Weiterbildung 11-12/2021
menschen 14 wirtschaft + weiterbildung 11/12_2021 WÜRDIGUNG. Von 1974 bis 1991 war Helm Stierlin ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Psychosomatischen Universitätsklinik in Heidelberg. Diese Abteilung wurde unter seiner Leitung ab 1980 im Bereich des systemischen Denkens in Deutschland zu einer der einfluss- reichsten und innovativsten Institutionen. Sein „Schüler“ Fritz B. Simon hat einen sehr persönlichen Nachruf verfasst. Helm Stierlin gehört zu der Handvoll Menschen, die in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts im deutschsprachigen Bereich die Ideen der Familientherapie vertreten und verbreitet haben. Er war zwar nicht der Einzige, aber sicher derjenige, der den größten Einfluss ausgeübt hat. Das Paradoxe an dieser Wirkung – und vielleicht ein Aspekt, der seinen Erfolg erklä- ren kann – ist, dass Helm eher schüchtern und ohne jede Ag- gressivität oder Besserwisserei seine familientherapeutischen Konzepte vertreten hat, aber auch nie defensiv wurde oder versuchte, sich einem Mainstream anzupassen. Dabei mag ihm geholfen haben, dass er – frisch aus Amerika zurückgekehrt, wo er nach seinem Medizin- und Philosophie- studium (bei Karl Jaspers) in Heidelberg in der Schizophre- nieforschung und -therapie gearbeitet hatte – nicht nur alle wichtigen in dem Bereich tätigen Forscher weltweit kannte und mit ihnen befreundet war, sondern auch alle damals die wis- senschaftliche Anerkennung sichernden Ausbildungen genos- sen hatte und zu den entsprechenden Fachgesellschaften (zum Beispiel den orthodoxen, internationalen Psychoanalytikerver- bänden) gehörte. Fokus auf die Familientherapie Stierlin war vom Establishment akzeptiert und respektiert. Das war die Basis, die es ihm ermöglichte, Unorthodoxes zu tun. 1974 berufen als Leiter der „Abteilung für psychoanalytische Zum Tode von Helm Stierlin Grundlagenforschung“ der Psychosomatischen Klinik der Uni- versität Heidelberg erweiterte er den Titel seines Instituts um den Zusatz „und Familientherapie“ und verschob damit den Fokus seiner wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Zeitgleich gründete er zusammen mit Joseph Duss-von Werdt die Zeit- schrift „Familiendynamik“. Wenn ich als jemand, der erst seit 1982 Mitarbeiter seines Instituts war und daher in erster Linie über die Zeit seither aus eigener Erfahrung sprechen kann, das Geheimnis von Helm Stierlins Wirkung benennen sollte, dann waren es einige seiner persönlichen Merkmale: Er war enorm neugierig, das heißt, er gab sich nicht damit zufrieden, das eta- blierte Wissen in seinem Gebiet (der Psychiatrie) anzuwenden, sondern er wollte immer Neuland betreten. Dabei war er, das mag auf den ersten Blick als Widerspruch erscheinen, demütig und unbescheiden, ehrgeizig und unprätentiös. Er achtete, wenn jemand neue Ideen oder Methoden vorstellte, nicht auf den Status, Orden oder Ehrenzeichen des Betref- fenden, sondern auf die Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit des Gesagten, das heißt, es war die Sachdimension, in der ihn Neues faszinierte. Gleichzeitig hatte er keine Probleme, sich gegen irgendwelche Orthodoxien zu wenden, wenn sie ihm un- sinnig erschienen. Seine Ambitionen waren hoch und er ach- tete, wenn er Kongresse organisierte (er ließ sie von uns orga- nisieren, denn das gehörte nicht zu seinen Kernkompetenzen), nicht darauf, irgendwelche Hackordnungen einzuhalten. Bei Workshops und Kongressen ging die (Fach-)Welt bei uns ein Helm (Wilhelm Paul) Stierlin. Der einflussreiche systemische Familientherapeut starb am 9. September 2021 im Alter von 95 Jahren in Heidelberg. Foto: by Milly Orthen
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