Wirtschaft und Weiterbildung 9/2021
training und coaching 50 wirtschaft + weiterbildung 09_2021 Nutze das ganze Spektrum! Nun also meldet sich Kolumnist Boris Grundl mit einem Plä- doyer für die goldene Mitte zu Wort. Das klingt einerseits nach einem edlen Volltreffer oder andererseits nach feh- lender Entscheidungskraft. Motto: In Zweifelsfällen springt man als Entscheider halt auf den Mittelpunkt, weil der wohl nicht völlig falsch ist. Aber es ist eine halbe Sache, weder Fisch noch Fleisch. So als ob der weltbeste Fußballer als eine Mischung aus einem Torerzeuger wie Robert Lewandowski und einem Torver- hinderer wie Manuel Neuer dauernd im Mittelfeld herum- krebst. Bitte ernster und weniger locker, würde Aristoteles mir laut Grundl zurufen, als bestes Maß beider gegenläufi- gen Tugenden – quasi fifty/fifty. Nun denn: Volle Zustimmung zum Grundl‘schen Verständnis einer Welt voller Spannungsfelder, unserem ständigen Rin- gen um die richtige Balance zwischen zwei extremen Polen. Volle Ablehnung zu seinem pauschalen Ratschlag der gol- denen Mitte. Das hat, zumindest laut der mir bekannten Sekundärliteratur, Aristoteles nicht gemeint. Schade, dass er längst tot ist, sonst hätte dieser antike Influencer selbst auf Grundl antworten können. Gut möglich, dass Aristoteles dieses meinte: Mesotes (μεσότης) sei nicht mittig, sondern dazwischen, also irgendwo mittendrin. Für ein gelingendes und glückliches Leben würde er vor allzu großem Übermaß des einen Extrems und völligem Mangel am anderen warnen. Wenn das kein Lob der Abwägung ist. Die aber auch zum Fazit kommen kann, dass einer der zwei Pole ab und an doch die beste Lösung ist: „It depends!“ (dies ist nicht altgrie- chisch). Denn es gibt Situationen, in denen es klug ist, sich Goldene Mitte. Zur Kolumne „Finde die goldene Mitte“ von Boris Grundl (in Heft 7/8-2021 von „Wirtschaft + Weiterbildung“) erreichte uns eine Stellungnahme von Martin Claßen, Unternehmensberater aus Freiburg und Mitherausgeber des neuen Fachmagazins „People & Work“, das im Verlag Handelsblatt Fachmedien erscheinen wird. Claßen schreibt uns: Martin Claßen. Der Berater veröffentlichte 2019 sein neuestes Buch „Spannungs- felder im Change Manage- ment“, in dem es um die situative Gestaltung von Ver- änderungsprozessen geht. bei moralischen Dilemmas ganz klar für eine Seite zu ent- scheiden. Beispiel Fakt oder Fake: Was ist hier die goldene Mitte, etwa die Halbwahrheit, mit der man seine Lügen durch einige unbestreitbare Tatsachen tarnt? Beim Fin- den der Tugenden und Meiden von Lastern lege ich daher nicht das Metermaß an und finde den arithmetischen Mit- telpunkt bei genau 50 Zentimetern, sondern schaue auf das gesamte Spektrum. Gelegentlich lande ich deutlich auf einer Seite. Weil diese in einer bestimmten Konstellation aus guten Gründen und mit meinen Augen richtig ist, als das im konkreten Fall Angemessene. Ganz klar: Im Ruf nach der goldenen Mitte steckt eine große Portion Weisheit. Übertreibt es nicht! Oder ökono- misch gesprochen das Prinzip des abnehmenden Grenznut- zens von immer mehr vom Einen (bei Verzicht aufs Andere). Mehr noch, ich stimme zu, eine solche Selbstbegrenzung grundgescheit zu nennen. Aber nicht als Doktrin. Denn das mittlere Maß bleibt eben oft nur mittelmäßig. Man stelle sich eine Künstlerin vor, die von sich sagt, sie gäbe alles für ein durchschnittliches Werk. Liegt nicht ein großer künstlerischer Reiz in den Extremen. Apropos Kunst, als ideale ästhetische Proportion gilt der sogenannte goldene Schnitt, mit einer Relation von fast Zwei zu Eins. Mit dem Plädoyer für die goldene Mitte nimmt man an, wir Menschen seien in unser psycho-sozialen Disposition ein unbeschriebenes Blatt. Wir könnten unser Verhalten stets zur Mitte hin auspendeln, ohne Mentalität, ohne Interes- sen, ohne Sentiment. Zumindest mir, das gebe ich sogar gerne zu, ist dies unmöglich. Dazu bräuchte es einen mys- tischen Zauber wie die unsichtbare Hand von Adam Smith, die List der Vernunft von Hegel oder die mentale Transfor- mation von Boris Grundl. Außerdem bin ich mir gewiss, dass die Ergebnisse seiner mentalen Transformation – „entspannte Hartnäckigkeit“, „zweifelnde Sicherheit“, „distanzierte Nähe“ – in der indi- viduellen Auslegung für ihn etwas anderes sind als für Sie oder mich. Die Grundl‘sche Verlockung, der Sprung ins bes- sere Ich, verkommt daher leicht zur Phrase. Ihre, seine und meine goldene Mitte bleiben subjektiv und situativ, geprägt vom jeweiligen Kopf und Herz und angepasst an die Inter- pretation der momentanen Umstände. Mein Fazit daher: Die goldene Mitte ist die Schwester des gesunden Menschenverstands. Beide sind zu schön, um wahr zu sein.
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