Wirtschaft und Weiterbildung 9/2021

R wirtschaft + weiterbildung 09_2021 49 einiges an Fähigkeiten voraus, von denen ich die wichtigsten nun umreißen werde: 1 Frustrationstoleranz Wählen muss man nur bei gleichwertigen Alternativen. Zwischen Rindergülle und Sekt muss man sich nicht entscheiden. Nur wer zwischen unterschiedlichen, aber jeweils attraktiven Heuhaufen steht, muss einen wählen, sonst verhungert er in der Mitte. Wer den linken wählt, ver- zichtet auf die Vorteile der verworfenen Alternative rechts. Was braucht man in dieser Situation um klar zu kommen? Die Schlussfolgerung ist recht einfach: Man muss verzichten können. Nur wer gut mit der Frustration umgehen kann, dass er immer etwas aufgeben muss, um etwas zu erreichen, kann sich klar für etwas entscheiden. Ich nehme mal Grundls Beispiele: Wer Nähe genießen möchte, der muss auf sein Bedürfnis nach Dis- tanz verzichten können. Und nur wer auf Nähe auch verzichten kann, wird sich im Für-Sich-Sein (=Distanz) wohlfüh- len. Wer auf Sicherheit setzt, der muss auf Freiheiten verzichten, und Freiheits- wünsche gehen auf Kosten der Sicherheit. Die Mitte hilft hier nicht, sondern die Be- weglichkeit. Beweglich wird der, der ei- nerseits oszillieren und andererseits an einem Pol auch verweilen kann. 2 Achtsamkeit für den Moment Um der Gegenwart gerecht zu werden, helfen keine allgegenwärtigen Regeln. Wer wissen möchte, was in diesem einen Au- genblick gut ist, braucht Achtsamkeit und Gewahrsein für den Moment. Selbst- und Fremdwahrnehmung werden so zur Basis gelingender Antworten auf die jeweilige Lebenslage. Das lässt sich nicht aus Bü- chern lernen oder durch Tipps anderer, sondern nur durch Selbsterfahrung, also durch intensive Beschäftigung mit den ei- genen Einschränkungen im Wahrnehmen eigener Impulse und äußerer Umstände. 3 Sicher in Unsicherheit Wer in einer unsicheren Welt Sicherheit sucht, hat auf das falsche Pferd gesetzt. Erreichbar ist aber sehr wohl, sicher im Umgang mit Unsicherheit zu werden. Um mit Heraklit zu sprechen, geht es darum, gut im Schwimmen zu werden, wenn das Leben sich im niemals gleichen Fluss ab- spielt. Dann sind Änderungen, disruptive Entwicklungen und Umgang mit Neuem das, was man erwarten kann. Man wird dann gut darin, eigene Antworten auf wechselnde Lebenslagen zu finden. 4 Toleranz für gegenteilige Entscheidungen Wenn bei jeder wahren Entscheidung auch eine andere Entscheidung wahr ge- wesen sein könnte, dann kann niemand mehr für sich die alleinige Wahrheit bean- spruchen. Dann kann mal die Mitte, mal der eine Pol, mal der andere Pol passend sein und es muss auch nicht für alle gleich sein. Daraus folgt, dass man es schätzen lernen muss, dass andere es anders ma- chen als man selbst, und – wichtiger – dass man es selbst anders machen darf, als andere es für richtig finden. Die Her- ausforderung bleibt dann, wie es gelingen kann, zu gemeinsamen Entscheidungen zu finden. Je mehr es von klein auf nor- malisiert wird, dass ein „Wir“ nicht mehr auf der Einigung auf ein vermeintlich für alle vernünftiges Ganzes beruhen kann, sondern auf Kompromissen beruhen, die immer den einen mehr und den anderen weniger dienen, desto leichter ist es nicht nur für sich selbst, sondern auch in Ge- meinschaft zufrieden zu werden. Hat man diese vier Fähigkeiten, dann entgeht man auch der Gefahr, die Boris Grundl in seinem Statement schildert: Nämlich der Gefahr, dass man sich in Ex­ tremen verliert oder von einem Extrem ins andere fällt. Extreme Verhaltenswei- sen sind in vielen Fällen durchaus ein Hinweis auf Selbstwahrnehmungsmän- gel. Sie können aber auch ein Ausdruck für eine klare und eindeutige Entschei- dung sein, die für eine gewissen Zeit und einen bestimmten Kontext passend ist. Daher greift der Vorschlag, die goldene Mitte zu wählen, zu kurz und ist unter- komplex. Im Übrigen gilt für Organisationen das Prinzip, dass es keine Entscheidungen gibt, die neben ihren Vorteilen auch je- weils Nachteile haben, genauso. Or- ganisationen sind um Konflikte herum gebaut. Auch hier gibt es keine goldene Mitte, sondern nur die Fähigkeit in Wi- dersprüchen zu surfen und Spannungs- zustände zu managen. Das vermeint- liche Heil einer optimierten und in sich schlüssigen Organisation ist eine Illusion. Diese vermeintlich schlechte Nachricht ist aus meiner Sicht jedoch ein hohes Gut. Es geht dann darum, möglichst viele Freiheitsgrade, wie entschieden werden kann, zu erhalten und seine Handlungen nicht an einem vermeintlich richtigen Rezept auszurichten. Entscheidungen bedürfen eines Wissens um unvereinbare Ziele (mehr im aktuellen Buch „Entschei- dungen ohne Grund. Organisationen ver- stehen und beraten. Eine Metatheorie der Veränderung“ von Eidenschink/Merkes). Wer im Privaten wie im Beruflichen das Leben an goldenen Rezepten ausrichtet, setzt sich dem Risiko aus, sich mit Erwar- tungen zu versehen, die vor allem Ent- täuschungen provozieren. Berater neigen dazu, ihren Kunden Versprechungen zu machen, von denen man eigentlich wis- sen kann, dass sie nicht eingelöst wer- den können. Wer hingegen lernt, dass es in der Welt kein Licht ohne Schatten, keinen Gewinn ohne Verlust, keine Ent- scheidung ohne Nachteile geben kann, der wird milde zu sich und anderen und sucht nicht mehr nach Vollkommenheit, sondern genießt das Vorläufige. Nach der Entscheidung für etwas ist vor der Ent- scheidung für etwas anderes. So wird das Leben zum sich ständig wandelnden Fluss, zur Verkettung von Ereignissen, auf die man Antworten findet. Von Moment zu Moment. Jede Harmonie, jeder Sinn, jedes Glück ist mit Zerfall versehen und ist die Asche, die dem Phönix zu neuem Leben verhilft. Klaus Eidenschink „ Nicht nach Vollkommenheit suchen, sondern das Vorläufige genießen.“

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