Wirtschaft und Weiterbildung 9/2021

wirtschaft + weiterbildung 09_2021 39 aber sie finden sofort, dass ihnen online etwas fehlt, vermissen die reale Dreidi- mensionalität und wollen überwiegend wieder zurück ins Präsenz-Coaching. Kann man im Kennenlerngespräch zu Beginn eines Coachings bereits abschätzen, ob der Coachee Präsenz oder online will? Looss: Nein, das kann man erst im Laufe der ersten Coaching-Situationen heraus- finden. Viele Menschen sagen mir, sie hätte nie gedacht, wie gut sie trotz On- line-Coachings vom Coach emotional ver- standen werden. Online-Coaching ist eine eigenständige Form, sich aufeinander zu beziehen und die muss erfahren werden und jeder muss für sich schauen, wie er mit seinen Onlineerfahrungen umgehen will. Manchmal denke ich an unsere Urgroß- eltern zurück, was die wohl dachten und fühlten, als das Telefon erfunden wurde. Auch das war damals eine völlig neue Kontaktform. In alten Filmen sieht man, dass Menschen ins Telefon brüllen, weil sie befürchteten, der Gesprächspartner in der nächsten Stadt kann sie wegen der Entfernung sonst nicht verstehen. Oder erinnern Sie sich nur, wie sich Coachs früher geradezu ideologisch verbohrt ge- stritten haben, wo eine Coaching-Sitzung stattfinden sollte. Die einen sagten, die Coachees müssen zu mir kommen. Die anderen betonten, ihnen fiele überhaupt nichts aus der Krone, wenn sie zum Coa- chee an den Arbeitsplatz fahren würden. Schließlich könnten sie gleich noch wahr- nehmen, wie das Klima dort ist. Ich selbst habe wunderbare Coachings in Hotelhal- len abgehalten. Damals wie heute disku- tieren wir Menschen offenbar gerne über Stilfragen. Wie wird es in der Zukunft mit der Durch- führung von Coachings weitergehen? Looss: Ich habe mit meiner Kundschaft besprochen, dass wir auf hybride Abläufe setzen werden. Der „Mix“ sieht in der Regel so aus: Das Kennenlerngespräch und die erste etwas längere Coaching- Sitzung finden im persönlichen Kontakt statt, um eine grundlegende Analyse und eine Zieldefinition vorzunehmen. Dann gibt es zwei weitere Online-Coachings über Zoom oder eine ähnliche Videokon- ferenzsoftware und dann sollte es wieder ein reales Treffen geben. In diesem Rhyth- mus könnte es weitergehen. Stichwort „Kennenlerngespräch“: Der Coachee wählt in der Regel nach drei Kennenlerngesprächen einen Coach aus und das Kriterium lautet überspitzt: „Die Chemie muss stimmen“. Kann man das nach einem Zoom-Meeting überhaupt feststellen? Looss: Der Coachee sollte zu sich sagen können: „Ich habe das Gefühl, der ver- steht mich“, weil die Kommunikation leicht von der Hand geht, einige Lebens- erfahrungen sich decken, man ansatz- weise eine gemeinsame Sprache spricht und eine ähnliche Art zu denken und zu reden hat. Wenn die Chemie stimmt, dann stellt sich das unscharfe Gefühl ein, sich gut aufgehoben zu fühlen. Dieses Gefühl taucht online wie offline auf - oder eben nicht. Meiner Erfahrung nach sind Coachees sehr wohl in der Lage, nach einer Zoom-Sitzung zu erkennen, ob sie sich aufgehoben fühlen. Haben Sie noch einen speziellen Rat für Online-Coachs? Looss: Ich kann als Coach ein Rollenvor- bild in diesem Arrangement sein, wenn ich etwas häufiger sprachlich anmerke, was bei mir gerade an kognitiven oder emotionalen Reaktionen abläuft. Damit bringe ich bewusst die Bezogenheit ins Spiel, von der das Coaching-Geschehen ja lebt. Interview: Martin Pichler Dr. Wolfgang Looss. Wie kommt in diesen Zeiten noch Orientie- rung zustande? Foto: Pichler Buchtipp. Im gerade neu erschienenen „Handbuch Coa- ching“ (4. Auflage, Hogrefe 2021) fin- det sich auch ein grundlegender Bei- trag von Wolfgang Looss („Einzel- Coaching - das Konzept einer kom- plexen Entwicklungsbeziehung“). Darin geht er unter anderem auf die „Unmöglichkeit“ ein, dass Kli- enten von einem seriösen Coach ein Patentrezept erwarten können. Außerdem zeigt er die Grenzen des Coachings auf, wenn es um Organi- sationsentwicklung geht. Wolfgang Looss im neuen „Handbuch“

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==