Wirtschaft und Weiterbildung 9/2021
training und coaching 38 wirtschaft + weiterbildung 09_2021 Haben Sie ein Beispiel für diese andere Art von Kontakt und welchen Einfluss das auf die Art hat, wie Sie als Coach intervenieren? Looss: Es muss natürlich mehr und in- tensiver versprachlicht werden, was beim Klienten in einer konkreten Situation in- nerlich abläuft und das erlaubt dann eine hohe Selbststeuerung. In einer Beratung mit einer etwas prominenten Führungs- kraft ging das so weit, dass die Person eben kurzzeitig den Monitor ausgeschal- tet hatte, als es ihr zu emotional wurde. Nach wenigen Minuten war dann aber eben sehr wohl klärend und erhellend be- sprechbar, was da an emotionaler Betrof- fenheit aufgetaucht und auch wichtig war. Was hat Sie beim Coaching mittels Videokonferenzsoftware am meisten überrascht? Looss: Ich merkte: Man kann sich nicht in die Augen schauen. Das geht technisch nicht, denn wenn man dem Gesprächs- partner, den man auf seinem Bildschirm sieht, in die Augen schaut, blickt man nicht in die Kamera am oberen Bild- schirmrand und dann kommt es nicht zu einem zeitgleichen Augenkontakt. Diese uralte menschliche Erfahrung, sich in die Augen zu schauen und sich intensiver zu begegnen, ist technisch derzeit eben nicht machbar – das ist nicht schlechter im Ver- gleich zu früher, sondern nur anders. Das alte Muster von Nähe und Distanz folgt plötzlich anderen Rhythmen. Wir haben noch keine Sprache dafür, um das zu be- schreiben. Ich selbst habe jedenfalls in den anderthalb Coronajahren noch nie während eines Coachings das Gefühl ge- habt, das wäre jetzt aber schöner, wenn wir uns gegenübersitzen würden. Sollte ein Coach nicht von sich aus auf ein reines Telefon-Coaching bestehen, damit er durch die Flut von Videobildern nicht abgelenkt wird? Looss: Für den Coach hat es durchaus Vorteile, wenn er sieht, was der Klient während des Gesprächs macht. Gestik und Mimik liefern Zusatzinformationen, die helfen, den gesprochenen Inhalt ein- zuordnen. Der Videokanal ist natürlich nicht dasselbe, wie wenn man sich gegen- übersitzt, aber er ist durchaus nützlich. Kommt jeder Coachee gleich gut mit dem Online-Coaching klar? Looss: Ich glaube, dass die eher introver- tierten oder rollenbewussten Menschen, denen die Begegnung mit anderen nicht so leichtfällt, das Online-Coaching sehr positiv aufnehmen, weil ihre grundsätz- liche Angst vor zu viel Nähe durch das Online-Setting verfliegt. Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und nur über den Bildschirm mit meinem Coach in Ver- bindung trete, dann kann ich mich auch als Introvertierter leichter öffnen. Mit ei- nigen Coachees habe ich sogar bewusst vereinbart, dass wir ab einem bestimm- ten Punkt den Bildschirm ausschalten – wenn sie das wollen – und nur noch tele- fonieren. Eher Extrovertierte sind online genauso kommunikativ wie sonst auch, Welche Erfahrungen haben Sie im Laufe der Coronakrise mit dem Online- Coaching gemacht? Dr. Wolfgang Looss: Lassen Sie mich vorab erwähnen, dass ich bereits in den 80er Jahren Menschen in der Entwick- lungszusammenarbeit gecoacht habe, die sich im Auslandseinsatz befanden. Die Coachees lebten in anderen Kontinenten und kamen wegen einer Coaching-Sit- zung natürlich nicht nach Deutschland geflogen. Ich habe damals telefonisch ge- coacht und das war keine minderwertige Art des Coachings, denn es gelang, am Telefon eine tragfähige Beziehung aufzu- bauen. Und auf welche Weise haben Sie im letzten Jahr Ihre Business Coachings durchgeführt? Looss: Coronabedingt habe ich die Coa- ching-Sitzungen über Tools wie etwa Zoom oder MS-Teams und auch über das Telefon abgehalten. Manchmal höre ich das Argument, Online-Coaching sei nur ein Abklatsch des „normalen“ Prä- senz-Coachings. Das finde ich nicht. Ich denke, wir müssen Anwesenheit neu er- finden. Online erlebe ich nicht weniger, aber eben eine andere Art von Kontakt. Es hat sich gezeigt, dass diese andere Art erstaunlich viele Möglichkeiten an Intensität bieten kann. Da ist eine ganze Menge an emotionaler Dichtheit mög- lich. „ Wir müssen den Begriff ‚Anwesenheit‘ neu erfinden“ INTERVIEW. Dr. Wolfgang Looss, Weiterstadt, ist einer der Pioniere des deutschen Business Coachings. Im Jahr 1991 schrieb er mit „Unter vier Augen – Coaching für Manager“ ein Grundlagenwerk, das heute noch eine hohe Relevanz für die Coaching- Branche hat. Über seine Erfahrungen mit dem Online-Coaching („Es ist weder besser noch schlechter – es ist einfach nur anders“) gibt er in diesem Interview Auskunft. „ Was unsere Urgroßeltern wohl fühlten, als die neue Kontaktform ‚Telefon‘ erfunden wurde?“
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