Wirtschaft und Weiterbildung 9/2021
wirtschaft + weiterbildung 09_2021 37 sind nicht mehr davon abhängig, sich an einem Ort zu treffen und das führt zu einer sehr viel einfacheren Organi- sation von Terminen. 2. Es sind kurzfristige Coaching-Termine machbar, weil man sehr gut auch kleine zeitliche Freiräume nutzen kann. Es können situationsadäquate Notfall-Coachings vereinbart werden. 3. In manchen Video-Coaching-Räumen können Livegespräche automatisch protokolliert werden – was die spätere Reflexion erleichtert. 4. Die Nebenkosten sinken, weil keine Reisekosten anfallen. 5. Coachs können sich im Ausland auf- halten und trotzdem ihre heimischen Klienten weiter betreuen. Kann Online-Coaching überhaupt das- selbe leisten wie Präsenz-Coaching? Für Sabine Prohaska, Business Coach und Inhaberin von Seminar Consult Prohaska in Wien, ist die Frage durch ihre Praxi- serfahrung längst beantwortet. Bereits im April 2020 stellte sie ihre Coachings und Coaching-Ausbildungen auf das Arbeiten im virtuellen Raum um. „Ein Coach kriegt nicht weniger mit und selbst Emotionen werden über Mimik und Gestik erstaun- lich gut transportiert“, sagt Prohaska über ihre Coachings. „Aber die Internet- verbindung muss gut sein“, schränkt sie ein. „Das Bild darf zwischendurch nicht einfrieren und am besten ist es, wenn der Coach seinen Klienten auf einem sehr großen Bildschirm sieht. Prohaska nutzt ein „normales“, videoba- siertes Kommunikationsmedium, das sie um eine Dokumentenkamera ergänzt. Die Kamera filmt sie dabei, wie sie Be- ziehungsgeflechte auf einem vor ihr lie- genden Stück Papier aufzeichnet oder zum Beispiel den Teil einer Diskussion strukturiert. Der Klient sieht auf seinem Bildschirm alles, was gezeichnet wurde und sagt, ob die Zeichnungen seine Schil- derungen wiedergeben. „Die Wirksamkeit ist längst belegt.“ Berichte von Coachs, dass die Onlinebe- ziehung zum Klienten nicht schwächer ist als unter Face-to-Face-Bedingungen und die Möglichkeiten, über Gefühle zu reden, nicht eingeschränkt sind, gibt es viele. Doch wissenschaftliche Studien, die das bestätigen, sucht man oft vergeblich. Zu kurz ist das Online-Coaching in Mode gekommen. Prohaska empfiehlt, sich an die Therapieforschung zu halten. In den USA, Canada und Australien sind wegen der großen Entfernungen Onlinetherapien die Regel und gut erforscht. Die Klienten reden oft mehr als in den Präsenztreffen und erleben auf Wunsch des Therapeu- ten alte Gefühle neu, sodass sie bearbeitet werden können. Und die Psychologin Christine Knaevels- rud berichtete in der Berliner Tageszei- tung „Tagesspiegel“ über die europäi- schen Erfahrungen mit Onlinetherapien: „An Evidenz mangelt es nicht. Die Wirk- samkeit ist längst belegt. In Ländern wie Großbritannien, Schweden und den Nie- derlanden gehören sie bereits zur Regel- versorgung.“ Nach einer klassischen Psy- chotherapie sagten die Klienten oft zum Therapeuten: Ohne Sie hätte ich das nicht geschafft! Nach Onlinetherapien hört man dagegen: Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas schaffe! Die Psychologin fasst zusammen: Die Hürde für eine Therapie online ist für viele Menschen etwas niedriger als eine Therapie Face-to-Face. Durch die größere Entfernung fühlen sich viele Menschen sicherer und könnten gegebenenfalls mehr preisgeben. Es fällt uns leichter, einem völlig Fremden Geheimnisse anzu- vertrauen als einem Menschen aus dem Umfeld. Klienten sehen in ihrem Thera- peuten bisweilen einen Fremden, dessen Meinung oder Gefühle sie nicht berück- sichtigen müssen. Dass Online-Coaching funktioniert, weiß Gianni Liscia von Liscia Consulting in Pa- derborn schon seit acht Jahren. Er und sein Team betrachten sich als Berater, die auch trainieren und auch coachen. Im Jahr 2013 hatten sie den Auftrag, den Change-Prozess einer italienischen Han- delsgruppe zu begleiten. Unter anderem wurde jeder Niederlassungsleiter indivi- duell gecoacht. Damit sich die Anreise lohnte, wurde jeder Regionalfürst vor Ort gleich einen ganzen Tag lang gecoacht. Doch beim zweiten Treffen war bei den Einzel-Coachings bereits nach einem halben Tag alles erreicht. Zum Glück entdeckte Liscia „Skype“, einen internet- basierten Instant-Messaging-Dienst, der 2011 von Microsoft aufgekauft wurde. Der Dienst bot schon damals Bildtelefonie, Videokonferenzen, IP-Telefonie, Instant- Messaging, Dateiübertragung und Screen- Sharing. Liscia entschloss sich Skype für seine Coaching-Stunden zu nutzen und hatte aus Sicht seines damaligen Auftrag- gebers einen beachtlichen Erfolg erzielt. Profis können online coachen, ohne dass die Gespräche an Substanz verlieren. Heute gilt Liscia als einer der experimen- tierfreudigen Vordenker der Coaching- Szene. Gefragt, was die nächste techno- logische Coaching-Innovation sein wird, antwortet der Paderborner, dass er viele neue Coaching-Gelegenheiten sieht, wenn erst einmal das autonom fahrende Auto möglich geworden sei: „Der Fahrer sitzt dann in einem bequemen Sessel, fährt seinem Ziel entgegen und unterhält sich mit seinem Coach, der auf die Wind- schutzscheibe projiziert wird.“ Martin Pichler
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