Wirtschaft und Weiterbildung 9/2021

R wirtschaft + weiterbildung 09_2021 25 Wissen und Kompetenzen können in Zukunft immer weniger auf Vorrat aus- gebildet werden. Bisherige Instrumente der Personalplanung und -entwicklung reichen nicht mehr aus, um die Bedarfe von morgen bereits heute antizipieren zu können. Damit wird ein seit Jahrzehnten geltender Leitgedanke der Organisations- theorie zur bitteren Realität: Bereits An- fang der 1990er Jahre beklagte der Ma- nagementprofessor Henry Mintzberg eine große Krise der strategischen Planung – die Ausrichtung der Strategieabteilungen und ihrer Instrumente sei zu linear und zu wenig überraschungsbereit. Er machte deutlich, wie strategische Planung immer wieder von der Wirklichkeit überholt und von Unternehmenskulturen unterminiert wird. Wie also können Unternehmen die Dy- namik und Komplexität der Verände- rungen im betrieblichen Personal- und Kompetenzmanagement vorausschauend abbilden? Sowohl Beschäftigte als auch Unternehmen benötigen Orientierung zu Zukunftsprofilen. Das Wissen um aktu- elle und zukünftige Kompetenzbedarfe ist entscheidend für eine bedarfsgerechte, zukunftsorientierte Personalbeschaffung und -entwicklung. Dies sichert die Ar- beits- und Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ermöglicht Produktivität sowie In- novationsfähigkeit und -geschwindigkeit von Unternehmen. Bislang fehlt ein dynamischer und ho- listischer Ansatz zur systematischen Erhebung der Kompetenz- und Qualifi- kationsbedarfe deutscher Unternehmen. Bestehende Ansätze verfolgen noch zu stark die Logik der Linearität und Pfad­ abhängigkeit im Prozess der Ermittlung und Umsetzung von Kompetenzbedarfen. Zukünftig wird es darum gehen, schritt- weise, iterativ und in Feedbackschleifen zu denken und zu handeln. Vor allem für kleine und mittlere Unternehmen wäre eine solche Orientierungshilfe von beson- derer Bedeutung, um ihr Kompetenzma- nagement erfolgreich zu betreiben. Die fünf Schritte der Kompetenzbedarfsanalyse Der Human-Resources-Kreis (HR-Kreis) von Acatech, in dem Personalvorstände führender Technologie- und Dienstleis- tungsunternehmen mit Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftlern zusammen- treffen, hat einen Ansatz entwickelt, mit dem sich Kompetenzbedarfe systematisch und kollektiv ermitteln lassen. Insgesamt ist der Ansatz als Multi-Stake- holder-Prozess zu verstehen und sollte im gesamten Unternehmen verankert wer- den; eine systematische Unterstützung über alle Managementebenen hinweg ist anzustreben – beginnend bei der Ge- schäftsführung. Die Zusammenarbeit von Personalmanagement mit weiteren Fach- bereichen ist bei der Entwicklung und Anwendung des Ansatzes erfolgskritisch. Im Sinne einer geteilten Eignerschaft bedarf es der funktionsübergreifenden Teamarbeit zwischen den Bereichen. Der Prozess der Kompetenzbedarfsana- lyse gliedert sich in fünf Schritte. Das Vorgehen ist dynamisch und flexibel mit fließenden Übergängen. Iterative Schlei- fen ermöglichen die mehrfache Wieder- holung beziehungsweise die Rückkehr zu einzelnen Aktivitäten und die kontinu- ierliche Anpassung im Prozess („Anpas- sungsschleifen“). Durch Reviews in den Phasen der Entwicklung und Anwendung des Kompetenzmodells können verän- derte interne oder externe Rahmenbe- dingungen berücksichtigt und „Lessons Learned“ erarbeitet werden. Eine Beson- derheit stellt die erstmalige Durchführung des Prozesses dar: Hier empfiehlt sich die sequenzielle Bearbeitung aller fünf Schritte. Schritt 1: Analyse der Rahmenbedingungen Ausgangspunkt für das erarbeitete Mo- dell ist die Frage nach gegenwärtigen und zukünftigen Kompetenzanforderun- gen – stets mit Blick auf das jeweilige gesellschaftliche Umfeld und die Ge- schäftsfelder. Ein grundsätzlicher Anfor- derungsrahmen mit heute und zukünftig erfolgsrelevanten Verhaltens- und Leis- tungsaspekten wird erstellt. Dafür erfolgt die Identifikation zentraler Trends sowie eine Analyse ihrer Auswirkungen auf Kompetenzbedarfe und -verfügbarkeit. Bestehende Kompetenzmodelle – aus branchenverwandten und -fremden Un- ternehmen – können herangezogen und gemeinsam mit Anforderungen aus der betrieblichen Praxis (zum Beispiel Cur- ricula oder Stellenausschreibungen) ana- lysiert werden. Mittels eines Screenings politischer Entwicklungen und des Um- feldmonitorings neuer Technologiefelder können auch wirtschaftspolitische Ent- wicklungen berücksichtigt werden. Auch Ergebnisse aus der Kompetenzforschung sollten hier einfließen. Voraussetzung und Grundlage für eine zielgerichtete Analyse der Rahmenbedin- gungen ist eine strategische Personalpla- nung. Neben der (Grob-)Planung quanti- tativer und qualitativer Mitarbeiterkapa- zitäten sollte im Unternehmen Klarheit über die strategische Ausrichtung herr- schen: Welche Unternehmensbereiche werden künftig wachsen, welche bleiben in der aktuellen Größe bestehen und wel- che werden reduziert oder aufgegeben? Die Analyse der Rahmenbedingungen schließt mit einem ersten groben Plausi- bilitätscheck durch die verantwortlichen Stakeholder. Schritt 2: Konzeption des Kompetenzmodells Im zweiten Schritt müssen die gewonne- nen Erkenntnisse eingeordnet werden: Welche Fähigkeiten benötigen wir weiter- hin? Welche werden weniger oder nicht mehr gefragt sein? Ziel ist die Erarbeitung von Struktur und Regelwerk für das Kom- petenzmodell – immer mit Blick auf die Zielgruppe des Modells. Das Vorgehen orientiert sich stark an der betrieblichen Praxis. Das Unternehmen selbst entschei- det über Aufbau und Komplexität des Modells, für die Gestaltung gibt es keine allgemeingültige Standardlösung. Zunächst werden die ermittelten Verhal- tens- und Leistungsaspekte reduziert, ver- dichtet, sinnvoll gruppiert und in Kom- petenzen übersetzt. Die verantwortlichen HR-Expertinnen und -Experten legen fest, welche Kompetenzen hinter den ver- schiedenen Anforderungsbeschreibun- gen stehen. In einem Kompetenzkatalog werden die identifizierten Kompetenzen mit entsprechenden Beschreibungen als Soll-Anforderungen zusammengefasst. Der Katalog unterstützt einen einheitli- chen Sprachgebrauch im Unternehmen, zum Beispiel bei der Mitarbeiterauswahl oder Personalentwicklung. Danach erfolgt die zielgruppenspezifi- Foto: HADIIA POLIASHENKO / gettyimages.de

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