Wirtschaft und Weiterbildung 6/2021
wirtschaft + weiterbildung 06_2021 45 ums Gewinnen. Wir verunglimpfen, dis- kreditieren und würdigen herab. Die Idee des Kompromisses gilt als Rückzug von der großen Sicherheit des Schwarz-Weiß- Denkens in ein undefiniertes Grau. Das ist das, was ich als einen Identitätskrieg bezeichne. Das Ergebnis sind dann Can- cel Culture, Trolling, Fake News und Aus- grenzung. Wer eine andere Meinung hat, zählt nicht. Sind Fake News dann vielleicht so etwas wie eine Folge der Bedrohung unserer Identität? Dutton: Wenn wir mit einer Meinung kon- frontiert werden, die nicht mit dem über- einstimmt, was wir sagen oder glauben, dann erfinden wir eben eine neue Infor- mation, die unsere Identität schützt. Ge- rade in den sozialen Medien ist es leichter denn je, Fakten nicht nur zu beschönigen, sondern vollständig zu ändern. Das ist verrückt, aber wir tun das. Wir greifen die anderen an, getreu dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. Und weil unsere Identität so abhängig davon ist, was wir sagen und wie wir gesehen werden, sind Fake News so etwas wie ein Schutzme- chanismus. Aber wenn die Realität immer mehr in ein Kampfgebiet totalitärer Mi- kroidentitäten zerfällt, wird irgendwann alles und nichts mehr real sein. Dazu passt es, dass es bei Facebook inzwischen mehr als 70 Gender- kategorien gibt. Ist das nicht ein Gegen- trend zur Kategorisierung? Dutton: Unser Hirn hat einen Kategorisie- rungsinstinkt, um die Welt einfacher zu machen und Zeit zu sparen, wie es das Beispiel der Bibliothek zeigt. Die Katego- risierung basiert daher auf Funktionalität. Wenn wir nun bei Facebook mehr als 70 Genderkategorien haben, dann hat unser Bedürfnis nach Identität unser Bedürfnis nach Funktionalität gekapert. Zu was das führt, zeigt das Beispiel Easyjet. Auf Twitter hatte ein transsexueller Dozent der Airline vorgeworfen, transphobisch zu sein und sich darüber beschwert, dass die Parfums im Bordverkauf nach Damen und Herren getrennt seien. Aber das ist sehr funktional. Das Bordpersonal hat im Trolley nur zwei Fächer und findet das entsprechende Parfum schnell, was gerade bei kurzen Flügen ein wichtiger Vorteil ist. Wenn nun alles durcheinan- der ist, verdoppelt das die Zeit der Suche. Der Dozent, der sich über die Zuordnung zu Frauen und Männern beschwerte, argumentierte von einem Identitäts- standpunkt. Doch wenn die persönliche Agenda das öffentliche Interesse kapert, bekommen wir ein Problem mit der Ka- tegorisierung. Und genau das ist hier pas- siert. Ein weiteres wichtiges Prinzip in Ihrem Buch ist die Kategorie „wir oder sie“. Was hat es damit auf sich? Dutton: Das geht zurück auf unsere Vor- fahren, die vor Millionen Jahren unter- scheiden mussten, wer für und gegen die Gruppe ist. Damals war die Gruppen identität absolut notwendig, weil das Um- feld sehr gefährlich war. Die Gruppe war unsere erste Lebensversicherung. Und wer ausgestoßen wurde, starb oft recht schnell. Unser Hirn hält an Dingen fest, die nützlich sind. Wir haben daher noch immer das Bedürfnis, zu einer Gruppe zu gehören, auch wenn die Mitglieder manchmal nur triviale Gemeinsamkei- ten haben. Sehr gut sieht man das bei Fußballspielen. Und wir bevorzugen die Mitglieder unserer Gruppe. In der Psycho- logie nennt man das den In-Group-Bias und der führt zu Vorurteilen und Diskri- minierungen. Also ist daran letztlich auch wieder unser traditioneller Kategorisierungsinstinkt schuld? Dutton: Wenn wir kategorisieren, machen wir das meist bei materiellen Dingen wie Büchern oder Produkten in einem Laden. Aber wenn wir anfangen, Menschen zu kategorisieren, beginnen die Stereotypen. Wir ziehen Grenzen und verteilen Men- schen auf den beiden Seiten. Dann sind zum Beispiel alle Trump-Anhänger für uns dumm. Sobald wir eine Linie ziehen, neigen wir zu Generalisierungen und das Ergebnis sind dann Diskriminierungen. Ich werde immer wieder gefragt, ob wir auch so etwas wie einen Rassismus-Ins- tinkt haben. Das sehe ich nicht so. Wir haben einen Kategorisierungsinstinkt und Rassismus ist eine Art Krebsgeschwür dieses Instinkts. Unser Hirn hat gelernt, bei Entscheidungen Abkürzungen zu nehmen. Wenn die Entscheidungen dabei auf der Basis guter und verlässlicher In- formationen getroffen werden, ist das kein Problem. Ein Beispiel: Skorpione neigen dazu, einen zu stechen. Also fass keinen an. Anders ist es, wenn sie aufgrund unzu- verlässiger Informationen erfolgen wie zum Beispiel: Schwarze sind gewalttäti- ger, weniger intelligent und krimineller. Es ist also nicht der Kategorisierungs- instinkt des Hirns, der schlecht ist, son- dern es sind die falschen Grundlagen. Wir müssen in der Lage sein, schnell ent- scheiden zu können, aber wenn das auf der Basis falscher Informationen erfolgt, kann es gefährlich sein und manchmal sogar töten. Das klingt so, als ob gerade die Vereinfachung das Komplizierte ist ... Dutton: Das bringt es auf den Punkt. In Australien habe ich mal den Slogan gele- sen: Das Leben ist einfach, aber wir be- stehen darauf, es kompliziert zu machen. Das ist aber vollkommen falsch. Es ist genau umgekehrt. Das Leben ist kompli- ziert, aber wir bestehen darauf, es ein- fach zu machen und das ist es, um was es beim Schwarz-Weiß-Denken geht. Interview: Bärbel Schwertfeger „ Wir sollten immer darauf vorbereitet sein, dass es andere Standpunkte als unsere eigenen gibt.“ Buchtipp. Kevin Dutton: „Schwarz. Weiß. Denken! Warum wir ticken, wie wir ticken“, DTV Verlag, Hamburg 2021, 432 Seiten, 24,00 Euro
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