Wirtschaft und Weiterbildung 6/2021
training und coaching 44 wirtschaft + weiterbildung 06_2021 sie wollen. Grenzen schaffen Aufmerk- samkeit für bestimmte Regeln. Aber das ist natürlich nie perfekt. In meinem Buch verwende ich die Analogie des Bildsu- cher-Prinzips. Bei einer Kamera habe ich eine Landschafts- und eine Portraitein- stellung. Einmal sehe ich das große Ganze und einmal die Details. Auch unser Hirn hat so eine Art kognitiven und psychologischen Bildsucher, der sich dem Informationskontext und den Erfor- dernissen der Situation anpasst. Es gibt manche Informationen, die wir detailliert analysieren müssen, um sie in viele ver- schiedene Kategorien einteilen zu können und es gibt Informationen, die besser mit weniger Details verarbeitet werden, also eher schwarz-weiß. In Großbritannien hatten wir am Anfang der Pandemie die klare Regel: Bleib zuhause, außer für notwendige Anlässe. Das war eine Land- schaftseinstellung, sehr schwarz-weiß. Aber es war eine sehr effiziente Kommu- nikationsstrategie, die funktioniert hat, weil die Menschen sie verstanden haben. Später, als die Infektionszahlen etwas ge- ringer wurden, konnten wir etwas mehr in das Bild hineinzoomen. Wir konnten drei Freunde im Freien treffen, mehr Ge- schäfte durften öffnen und Reisen in be- stimmte Länder waren erlaubt. Das Bild umfasste mehr Details, wurde aber auch verwirrender und unfairer. Später wurde das Land entsprechend der Infektions- zahlen in bestimmte Zonen eingeteilt. Dabei verlief die Grenze zwischen zwei Zonen auch mitten durch ein Dorf. Der Pub auf der einen Seite durfte öffnen, der auf der anderen nicht, obwohl nur hun- dert Meter dazwischen lagen. Aber es geht nicht anders. Wenn auch der zweite Pub öffnen dürfte, was ist dann mit dem nächsten, der vielleicht wiederum nur hundert Meter weiter liegt? Entweder zieht man eine strikte Grenze oder man muss sie ständig ausweiten, bis man am Ende gar keine Grenze mehr hat. Bei der Kategorisierung spielt auch die Sprache eine wesentliche Rolle. So spre- chen die einen zum Beispiel von Migranten, die anderen von Flüchtlingen und legen damit zwei unterschiedliche Kategorien fest. Wer setzt sich durch? Dutton: Dazu gibt es ein sehr treffendes Zitat von Franklin Roosevelt, der gesagt haben soll: Der effektivste Politiker ist derjenige, der mit der lautesten Stimme das sagt, was in den Köpfen der meisten Menschen ist. Das ist ein Kategorien- Krieg, bei dem es darauf ankommt, in welchen Rahmen man seine Argumente setzt. Entscheidend ist nicht, wie die Dinge sind, sondern wie man sie sieht. Wer das am besten kann, gewinnt. Dazu gibt es eine schöne Geschichte, die ver- mutlich erfunden ist, aber die Sache gut auf den Punkt bringt. Ein Klient schenkte seinem Anwalt nach einem erfolgreichen Prozess eine Kiste sehr teure Zigarren. Der Anwalt genoss die zwölf Zigarren und überlegte, ob er nicht gegenüber seiner Versicherung behaupten könne, die Zigarren seien durch ein Feuer zer- stört worden und Schadensersatz fordern könne. Der Fall ging vor Gericht. Der Anwalt gewann. Ein paar Wochen spä- ter brachte ihn die Versicherung wegen Brandstiftung in zwölf Fällen vor Gericht und gewann. Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie wir Informationen in einen an- deren Kontext stellen können. Dasselbe passiert mit Begriffen wie Migranten und Flüchtlingen. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Tony Blair am Anfang zur Pandemie im März 2020 in einem Interview vorgeschlagen hat, möglichst viele Menschen zu testen, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen. Viele Briten hielten seine Aussage aber für absurd. Was ist da passiert? Dutton: Sein durchaus vernünftiger Vor- schlag kam bei vielen nicht an, weil sie diese mit seiner zweifelhaften Rolle im Irakkrieg vermischten. Das Kriterium der politischen Zugehörigkeit und der Unzu- friedenheit mit seiner Rolle im Irakkrieg 2013 stahlen dem eigentlichen Thema – der Bekämpfung der Pandemie – die Schau. Um andere von etwas zu überzeu- gen, braucht man immer zwei Vorausset- zungen: 1. eine wirklich gute Botschaft und 2. die Person, die die Botschaft sen- det, muss glaubwürdig sein. Doch seit dem Irakkrieg halten viele Briten Tony Blair nicht mehr für einen glaubwürdigen Politiker. Seine Botschaft ist damit quasi kontaminiert. Dagegen können Sie nicht viel tun. Wenn eine der beiden Voraus- setzungen nicht gegeben ist, leidet ihr Po- tenzial, andere zu beeinflussen. Nach Blairs Aussage gab es damals einen Shitstorm auf Twitter. Welche Rolle spielen die sozialen Medien? Dutton: Sie ändern den Kontext. Jeder hat heute eine Plattform, um seine Meinung kundzutun und was zählt, ist der Effekt. Je schwarz-weißer, desto wirkungsvoller, selbst wenn es Unsinn ist. Ich habe vor kurzem eine Statistik gesehen, wonach unser Hirn heute in 24 Stunden so viel Informationen aufnimmt wie ein Mensch im ländlichen Großbritannien im Mit- telalter in ihrem ganzen Leben. Das ist schon beängstigend. Es gibt heute einen aberwitzigen Wettbewerb darum, sei- nen Informationen Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das führt zu dem, was ich das Informationsgesetz des Dschungels nenne. Damit man eine Botschaft rüber- bringt, muss sie vor allem auffallen und sie muss schwarz-weiß sein. Dschungel ist eine gute Analogie. Denn oft geht es nur noch um die Verbreitung der Botschaft, aber es findet keine ernsthafte Auseinandersetzung mehr statt. Haben wir das verlernt? Dutton: Nie in unserer Menschheitsge- schichte war unsere Identität so abhängig davon, was wir sagen oder glauben oder wie wir gesehen oder verstanden werden. Wir leben in einem Zeitalter der nie da- gewesenen Vernetzung, der beispiellosen Selbstentblößung und der grenzenlosen Reichweite, wo Meinungen, Überzeugun- gen und persönliche Ideologien einen gro- ßen Teil unserer sozialen und kognitiven Identitäten ausmachen. Und wenn unsere Art zu denken infrage gestellt wird, ver- teidigen wir daher unser Selbst. Statt wie ein Wissenschaftler die Wahrheit heraus- finden zu wollen, geht es uns nur noch R „ Kategorisierungen machen die Welt einfacher, sparen Zeit und erleichtern es, etwas zu tun.“
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