Wirtschaft und Weiterbildung 7_8/2021

titelthema 18 wirtschaft + weiterbildung 07/08_2021 Weg vom „Wir gegen alle“ Maren Urner, Professorin für Medienpsy- chologie an der HMKW Köln, beschäftigt sich damit, wie Menschen Denkmuster ändern können. Privates und Berufliches unter einen Hut bringen, Gutes tun, immer up-to-date sein – Urner umreißt persönliche Herausforderungen, die lei- der von biologischen Mustern wie Sicher- heitsstreben, Kosten-Nutzen-Analysen und Lager-Denken beeinflusst werden. Sie treibt die Frage um, wie sich trotz allem mehr Glück und Wohlbefinden för- dern ließen. Ihre Antwort lautet: mit „dy- namischem“ Denken: 1. Sich nicht fragen, „wogegen“ man ist, sondern „wofür“. 2. Statt „wir gegen die“ gemeinsam als Wir agieren. 3. Sich „andere“ Geschichten erzählen. Auch für Unternehmen ist das interes- sant. Die Autorin richtet den Blick immer wieder auf Belohnungssysteme, Kommu- nikationsprozesse und Entscheidungsfin- dungswege. Ob es um Klimaschutz, die Gender-Debatte oder Work-Life-Balance geht – viele der Denkimpulse, die Urner in diesem Buch gibt, könnten HR und Führungskräften dabei helfen, eine neue Arbeitsumgebung zu schaffen, in der Menschen die großen Megatrends besser bewältigen können. Orientierung am Mittelwert Wenn in einem Land die Justiz jeden Straftäter ein bisschen strenger behandelt, als es laut Gesetz nötig wäre, dann wäre das ein „biased“ System. Die Richter ur- teilen grundsätzlich bei jedem „verzerrt“. Von „noisy“, also einem „verrauschten“ System spricht man dagegen, wenn ein Richter eine bestimmte Sorte von Straf- tätern für ein ähnliches Verbrechen mal strenger und mal milder bestraft – je nachdem ob der Richter gut oder schlecht gefrühstückt hat. Bias ist ein systema- tischer, durchschnittlicher, vorherseh- barer Fehler. Noise ist eine Schwankung, die vom puren Zufall abhängt. „Noise im Gerichtssaal ist die schockierende Lotte- rie, der sich Angeklagte stellen müssen“, sagen die Autoren des Buchs „Noise“, Daniel Kahneman, Olivier Sibony und Cass R. Sunstein. Ein anderes Beispiel für „Noise“ geht so: Ein Mensch kommt mit Hautausschlag zum Arzt. Der sagt am Freitagnachmittag locker: „Nehmen Sie Salbe X und kom- men Sie in drei Monaten wieder.“ Wenn derselbe Doktor am Montagmorgen zum selben Menschen sagen würde, „Lassen Sie uns ein paar Tests machen“, dann wäre „Noise“ im Spiel, weil der Arzt unbewusst durch eine schwankende Ar- beitsmoral beeinflusst wird. Maren Urner: „Raus aus der ewigen Dauerkrise: Mit dem Denken von morgen die Probleme von heute lösen“, Verlag Droemer HC, München 2021, 288 Seiten, 16,99 Euro Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sunstein: „Noise: Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können“, Siedler Verlag, München 2021, 480 Seiten, 30,00 Euro Durch ihre Forschung versuchen die drei Autoren zu erklären, wie man diese „Stö- rungen“ reduziert. Daniel Kahneman, Ko- gnitionspsychologe, wurde im Jahr 2002 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausge- zeichnet. Sein Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ wurde zum Welt- bestseller. Sein Tipp, um „Noise“ zu re- duzieren: Wir müssen lernen, diese Stör- geräusche zu verstehen und mit ihnen elegant umzugehen. Nur dann können wir auf Dauer bessere und gerechtere Ent- scheidungen treffen. Kahneman fordert von den Unternehmen mehr „Entscheidungshygiene“. Sie be- steht darin, dass jeder, der bei einer Ent- scheidung mitreden darf, seine persön- lichen Vorlieben kennt und sie ignorieren kann. Stattdessen richten sich alle nach Entscheidungskriterien, die das Unter- nehmen einmal festgelegt hat. Außerdem sollte noch klar sein, welches Gewicht den einzelnen Kriterien zukommt. Einzelne Richter und Richterinnen wer- den bestimmt sehr ungehalten reagieren, wenn ihnen Richtlinien auferlegt werden, die „Noise“ reduzieren sollen. Sie sind wahrscheinlich überzeugt, dass ihre in- dividuellen Entscheidungen immer nur richtig sind und können sich nicht vor- stellen, dass jemand einen Fall anders sehen würde. Ein Ansatz für Entschei- dungshygiene besteht demnach darin, dass viele Menschen ein Urteil fällen, um dann den Durchschnitt der Mehr- heit zu ermitteln. Ein anderer Schritt in Richtung Entscheidungshygiene könnte darin bestehen, dass jeder Teilnehmer eines Meetings schon vorher erfährt, wo- rüber genau diskutiert werden soll und eine eigene (wenn auch vorläufige) Ent- scheidung mitbringen muss, ohne von den anderen Mitstreitern beeinflusst zu sein. Anschließend wird der Mittelwert aus den mitgebrachten Entscheidungen als Grundlage für die endgültige Entschei- dung genommen. Das ist alles sehr aufwendig und somit teuer, gibt Kahnemann zu und empfiehlt Privatleuten, sich diesen Aufwand zu sparen. Aber Unternehmen und andere Organisationen sollten unbedingt auf die Entscheidungshygiene achten, denn schließlich könnte eine Volkswirtschaft durch weniger „Noise“ im System Fehlin- vestitionen verhindern.

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