Wirtschaft und Weiterbildung 7_8/2021
aktuell 12 wirtschaft + weiterbildung 07/08_2021 „Vorgaben sowie standardisierte Prozesse und Regeln nehmen den Mitarbeitern ihre Lebendigkeit. Sie hindern sie daran, ihre Potenziale zu entfalten und ihre Fähigkeiten voll in die Organisation einzu- bringen und außerdem kreativ und innovativ, mutig und experimentierfreudig zu sein – also all das zu sein, was für die Unternehmen in der Vuka-Welt überlebenswichtig ist.“ Beim Lesen dieser Zeilen, die Herr X, der Inhaber eines großen Beratungsunternehmens geschrie- ben hat, schüttelte ich spontan den Kopf – und zwar so stark, dass mir fast das Brötchen, das ich gerade aß, aus dem Mund fiel. Denn ich bin felsen- fest überzeugt: Jede Gemeinschaft – wozu auch Unternehmen zählen – braucht zum Funktionieren gewisse Vorgaben, Prozesse und Regeln. Zudem bin ich überzeugt, Regeln hindern Menschen nicht daran, ihre Potenziale zu entfalten. Ich weiß, dass es im Beratungsunternehmen von Herrn X genaue Vorgaben gibt, welche Qualitätskri- terien ein neues Beratungsprodukt erfüllen muss, dass es definierte Verfahren gibt, um zu überprü- fen, dass die Beratungsleistungen nicht nur den eigenen Qualitätsansprüchen, sondern auch denen der Kunden entsprechen. Ansonsten hätte das Beratungsunternehmen vermutlich nicht einen so exzellenten Ruf im Markt. Mich ärgern zunehmend die undifferenzierten Aussagen, die in der Bera- terszene gang und gäbe sind. Mich nervt es außer- ordentlich, wenn … ich Sätze lese, dass der „Mindset der Führungs- kräfte sich ändern müsse“, gerade so als seien alle Führungskräfte unsensible Wesen. Hat sich im Bereich Führung in den letzten Jahrzehnten in den Unternehmen nicht schon vieles geändert? … ich den Satz lese, dass Führungskräfte keine „Verwalter“ sein dürften, sondern „Gestalter“ sein müssten. Solche Bemerkungen reflektieren nicht wie vielfältig die Rollenanforderungen an eine Führungskraft sind. … Agilität undifferenziert als die Lösung aller Pro- bleme in Unternehmen präsentiert wird, unabhängig davon, ob gerade von den Abteilungen Forschung und Entwicklung, Produktion oder Verwaltung die Rede ist. … Berater suggerieren, Führung und hie- rarchische Entscheidungsstrukturen seien im Unternehmen der Zukunft obsolet. Lassen sich Konzerne wie Gara- genfirmen organisieren und führen? … s o getan wird, als bräuchten Unternehmen nur „kreative Geister“ und nicht mindestens ebenso dringend „fleißige Bienen“, die faktisch das Rück- grat jeder Organisation bilden, weil sie zuverläs- sig die anfallende Arbeit erledigen. Wenn ich ein – aus meiner Warte – so „naives Gequatsche“ von Beratern lese, packt mich zuwei- len die Verzweiflung, denn dann habe ich den Eindruck, dass die Debatten der Unternehmer- entwickler vor 30 Jahren schon viel weiter waren. Zumindest sind solche Pauschalaussagen für mich kein Ausdruck von Felderfahrung und Kompetenz, sondern eher der Ausdruck eines undifferenzierten Denkens, das zu (Marketing-)Parolen verdichtet wird. Die obigen Aussagen gelten nicht für das Gros der Berater (das sei expressis verbis betont). Sie gelten aber für so manchen Berater, der sich selbst als Vordenker versteht und der in seinem stillen Käm- merchen immer ganz zufällig die Lösung für alle Probleme der Menschheit findet. Gastkommentar Auch New Work braucht Regeln Pauschale Aussagen sind nie Ausdruck von echter Praxiserfahrung. „ „ Bernhard Kuntz Bernhard Kuntz ist der Gründer und Inhaber der Agentur „Die Profilberater GmbH“, Darmstadt, die Bildungs- und Beratungsanbieter beim (Online-)Marketing unter- stützt. Er ist Autor unter anderem der Bücher „Die Katze im Sack verkaufen“, „Fette Beute für Trainer und Berater“ und „Warum kennt den jeder?“. www.die-profilberater.de
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