Wirtschaft und Weiterbildung 11/2021
menschen 16 wirtschaft + weiterbildung 10_2021 Amazon gehen Leute krank zur Arbeit, weil es einen Platin- Bonus gibt, wenn der Krankenstand unter vier Prozent liegt. Die Absichten sind immer gut, die Konsequenzen schlecht. Es gibt doch auch sanfte Anreize, die keine negativen Konsequenzen haben. Würden Sie Unternehmen beispiels- weise empfehlen, keine Yogakurse mehr anzubieten? Sprenger: Ja, das würde ich! Ich halte große Teile der gegen- wärtigen Unternehmensführung für übergriffig und in ihrer Distanzlosigkeit auch für historisch vorbildlos. Hier wird eine totale Inklusion in die Organisation zelebriert. Stichwort: Busi- ness-Sekten. Die Grenze zwischen der Arbeit im Unternehmen und dem Individuum erodiert immer mehr. Die Zuständigkeit von Unternehmen für die persönliche Gesundheit finde ich ge- radezu pervers. Da kommen wir relativ schnell in den Bereich der Volksgesundheit hinein. Die hatten wir in der NS-Zeit und in der DDR. Für mich gilt: Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. Wie bewerten Sie es, wenn Unternehmen sich Klima- oder Gemeinwohlziele setzen, dies klar kommunizieren und von ihren Beschäftigten entsprechendes Verhalten einfordern? Sprenger: Das ist legitim. Wir sollten wieder zu einem klaren Forderungs- und Führungsverhältnis kommen. Dies betrifft aber nur das Verhalten am Arbeitsplatz. Für mich als Libe- raler ist die Schädigungsthese wichtig: Schlimmes verhindern ist wichtiger als Gutes tun. Deshalb können wir zum Beispiel auch keine Gesundheit anstreben, sondern nur das Vermeiden von Krankheit. Wenn ich aber weiß, dass nach meiner Bewer- tung etwas absolut zu vermeiden ist, dann verbiete ich das. Und jeder kann jetzt wählen, ob er diese Spielregel mitspielt. Ihre gesamten Beobachtungen zum Thema Motivation klangen vor 30 Jahren schon ganz ähnlich. Hat sich seither nichts verändert? Sprenger: Fast nichts. Was die Spät- und Nebenwirkungen „er- folgreicher Motivierung“ angeht, hat sich das Problem sogar noch verschärft. Nur einen wichtigen Unterschied mache ich dabei aus: Kaum noch ein Unternehmen erwartet von Boni und Incentives eine Leistungssteigerung. Die ganzen Bonus- systeme haben sich einfach ritualisiert. Leistungsvariable Ein- kommensanteile verstetigen sich. Menschen erwarten, dass sie die Boni immer und immer wieder bekommen, auch wenn sich ihre Leistung nicht steigert. Deshalb bleibt es nach wie vor ein groteskes Schauspiel: Das Gehalt gibt es dafür, dass Beschäftigte morgens zur Arbeit kommen. Und wenn sie sich dort auch noch bewegen, ist das bonusrelevant. Zumindest individuelle Boni, die aufgrund von Zielvereinba- rungen berechnet werden, fahren Unternehmen in den letzten Jahren zurück – ein Trend der empirisch belegt ist … Sprenger: Manche Unternehmen haben sich eben doch über- zeugen lassen, dass individuelle Boni Unsinn sind. Ich habe Organisationen immer als Kooperationsarena modelliert, die um die zentrale Idee der Zusammenarbeit herum gebaut sind. Das hat zur Konsequenz, dass die individuelle Zurechenbar- keit von Leistung im Unternehmen weder möglich noch wün- schenswert ist. Aber im Vertrieb geht es einfach nicht ohne individuelle Boni. Warum halten sich hier extrinsische Anreize so hartnäckig? Sprenger: Das ist vor allem der Tradition geschuldet. Men- schen, die im Vertrieb arbeiten, sind unter den Bedingungen eingestellt worden, dass es eine Provision als individuelle Lei- stungskomponente gibt. Unternehmen tun sich ausgesprochen schwer, diese Praxis zu ändern. Denn da kommt schnell die Verlustangst ins Spiel. Und wir wissen aus der Forschung, dass die Angst, etwas zu verlieren, größer ist als die Chance auf Ge- winn. Außerdem glauben viele, dass im Vertrieb die Koopera- tion und die Zuarbeit von anderen am schwächsten ausgeprägt ist. Das war vor 30 Jahren auch schon so, und das bestreite ich immer noch. Ich komme aus dem medizinisch-technischen Außendienst und habe damals bereits darauf hingewiesen: Es ist doch eine Illusion zu glauben, dass Verkäufer als Einzel- kämpfer Erfolge einfahren. An jedem Produkt, das verkauft wird, sind unendlich viele Leute im Unternehmen beteiligt, nur dass es für sie nicht bonusrelevant ist. Deshalb plädiere ich seither für eine allgemeine Beteiligung auf Basis von Unterneh- mensergebnissen. Inzwischen zählen neben Umsatz und Gewinn zunehmend das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen – auch am Finanzmarkt. Dafür messen Unternehmen ihren CO2-Ausstoß oder ihren Impact im Sinne der UN-Nachhaltigkeitsziele. Wie sinnvoll finden Sie das? Sprenger: Wer viel misst, misst viel Mist. Die Messung von Leistung verschafft Unternehmen die Illusion von Objektivität. Aber nicht alles, was wichtig ist, kann man messen und nicht alles, was messbar ist, ist wichtig. Es gibt also einerseits viele Scheindaten, die Unternehmen auf ihrer Schauseite herzeigen, um Marketingeffekte zu erzeugen. Das ist in Ordnung, wenn damit auch tatsächlich positive Entwicklungen in die gezeigte Richtung möglich sind. Ob das immer der Fall ist, wage ich zu bezweifeln. Außerdem sollte man darauf achten, dass man sinnvolle Dinge nicht unterlässt, nur weil man sie nicht messen kann. Was Zielvereinbarungen und Vergütung betrifft, raten Sie Unternehmen letztlich: Zahlen Sie Ihre Leute gut und fair – und dann tun Sie alles, damit sie das Geld vergessen. Wie meinen Sie das genau? Sprenger: Meine Erfahrung ist grundsätzlich, dass fast alle Ge- spräche über Geld Stellvertretergespräche sind. Diese sollen wesentliche Dinge verdecken – zum Beispiel, dass Menschen das Gehalt als Schmutzzulage erleben und deshalb mehr for- dern. Einkommensbezogene Entscheidungen sollten aber kei- nen Einfluss auf sachbezogene Entscheidungen haben – also zum Beispiel auf die Frage, ob jemand die richtige Aufgabe macht, mit den richtigen Menschen und ob jemand die eigenen Talente einsetzen und sich dabei weiterentwickeln kann. Denn nur dann können alle Mitglieder einer Leistungsgemeinschaft das realisieren, was sie für sinnvoll halten. Wenn das nicht R
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