Wirtschaft und Weiterbildung 11/2021
aktuell 12 wirtschaft + weiterbildung 10_2021 Die NATO hat den Krieg in Afghanistan verloren. Aus systemtheoretischer Perspektive war dies vorherzu- sehen (und wurde vorhergesagt) - aus 2 Gründen: 1. Soziale Systeme lassen sich von außen nicht zielgerichtet beeinflussen. Die Intervention der NATO setzte auf die Überle- genheit des Militärs. Das hat schon in Vietnam, in Libyen, im Irak nicht funktioniert. Die Erklärung dafür ist, dass das Verhalten sozialer Systeme „strukturdeterminiert“ ist, das heißt es ist immer (!) von ihren internen Strukturen bestimmt. Dies bedeutet nicht, dass andere Akteure – wie interve- nierende Mächte – keinen Einfluss hätten, sondern dass deren Aktionen nur als „Irritationen“ wirken, auf die gemäß interner Prozessmuster reagiert wird. Um dies zu veranschaulichen, ein Vergleich mit einem anderen Typus strukturdeterminierten Systems: dem Organismus. Wenn man einen Ball tritt (zum Beispiel bei einem Elfmeter im Fußball), so fliegt der im Idealfall wie geplant in die obere linke Ecke des Tors. Wenn man hingegen einen Hund tritt, so ist dessen Reaktion nicht vorhersehbar, denn sie hängt davon ab, was dieser Tritt für den Hund bedeutet und welche Reaktionsmuster er im Laufe seines Lebens erworben hat. Kann sein, dass er die Flucht ergreift. Es kann sein, dass er beißt. Irritationen von außen können innerhalb eines strukturdeterminierten Systems (ist gut in Organisa- tionen zu studieren) unterschiedlich bewertet wer- den: als Anregungen oder als Störungen. Sie können Anlass zur eigenen Veränderung genutzt werden, oder sie können als Störungen abgewehrt werden. Die Intervention in Afghanistan hatte offenbar beides zur Folge. In Städten wie Kabul kam es zu einer Modernisierung des Alltagslebens – zum Bei- spiel der Rolle der Frauen. Auf dem Lande erfuhren eher die traditionellen Strukturen Bestätigung. Die Taliban haben nach der Machtübernahme nun ein Problem, das dem der Westmächte vergleichbar ist: Sie können strukturdeterminierte Systeme nicht von außen steuern. Afghanistan ist ein kein Natio- nalstaat im westlichen Sinne, sondern es besteht aus unterschiedlichen Stämmen, die als autonome Überlebenseinheiten funktio- nieren und auf die Taliban (Pashtunen) als von außen kommende Gegner reagieren. Außerdem wird sich die Stadtbevölkerung, vor allem die Frauen, nicht wieder in einen mittelal- terlichen Lebensstil fügen. 2. Man darf nur Kriege beginnen, die man gewin- nen kann. Dies war hier nicht der Fall. Das Paradox des Krieges besteht darin, dass der Verlierer entscheidet, ob der Krieg endet. Er muss die weiße Fahne ziehen und kapitulieren. Dem Frie- den gegenüber hat de facto jede der Parteien das Vetorecht, denn sie kann jederzeit wieder mit feind- seligen Aktionen beginnen. Daher kann nur Kriege gewinnen, wenn der Gegner vernichtbar ist oder als handelnde Einheit kapitulieren kann (daher ist „Krieg gegen den Terror“ Unsinn). Langfristig lässt sich kein soziales System durch die Anwendung von Gewalt beherrschen. Autoritäre Systeme ver- stärken die Repression, wenn ihre Macht in Frage gestellt wird. Aber das ist der Anfang vom Ende, weil deren Kosten explodieren, die ökonomischen Bedingungen sich generell verschlechtern, und die Zustimmung der Bevölkerung schwindet. Diese Erkenntnis steht hinter dem Erfolgsgeheimnis der Taliban: „Ihr habt die Uhren, wir die Zeit“. Allerdings dürfte das auch der Grund für ihr langfristiges Scheitern sein (ob mit oder ohne Uhren). Gastkommentar Afghanistan – Systeme nicht von außen änderbar Man kann strukturdeterminierte Systeme nicht von außen steuern. „ „ Fritz B. Simon Fritz B. Simon gilt als führender Vertreter der systemischen Organisationstheorie. Seit 2007 betreibt er den Blog „Simons Systemische Kehrwoche“ (https://www.carl-auer.de/magazin/kehrwoche), in dem er virtuell vor allen Türen kehrt. Ob Sport, US-Wahl, Kinofilme oder die Deutsche Bahn: bei Simon gibt es kein Thema, das nicht auf die systemische Kehrschaufel geladen wird.
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