Wirtschaft u. Weiterbildung 7-8/2020
wirtschaft + weiterbildung 07/08_2020 27 ness-Alltag eher selten sind und in ihrem Fall auch schwer zu interpretieren waren. Die Managerin kam ins Coaching, da sie bereits anfing, bestimmte Besprechun- gen zu vermeiden, weil sie befürchtete, dort in Tränen auszubrechen. Das Coa- ching begann mit dem Entwerfen ihrer erwünschten Zukunft. Das fiel ihr nicht schwer, da die erwünschte Zukunft sehr gut zu ihrem aktuellen Selbstbild passte: Eine starke, selbstbewusste Managerin, die auch in schwierigen Situationen die Fassung bewahrte und Dinge so voran- treiben konnte. Bei der Detaillierung ihrer erwünschten Zukunft kam sehr schnell heraus, dass auch ihr privates Umfeld be- troffen war. So sollte der Managerin der Kontakt zu neuen Bekannten einfacher fallen und Feste in der Nachbarschaft unbeschwerter werden. Das intensive Beschreiben ihrer erwünschten Zukunft führte zu einer lan- gen Liste an positiven Unterschieden, die solch eine Zukunft für sie und ihr Umfeld machen würde und die sich positiv auf ihr Selbstbewusstsein und ihr Auftreten auswirken würde. Damit war die erste Phase, Ergebnisse definieren und diffe- renzieren, bereits abgeschlossen. In der nächsten Phase, die noch in dersel- ben ersten Sitzung stattfand, haben wir nach Situationen gesucht, die schon als Vorboten dieser Zukunft gedeutet werden konnten. Dazu dienten Fragen der folgen- den Art: • „Welche Anzeichen gab es schon in den letzten Wochen, die in die ge- wünschte Richtung (erwünschte Zu- kunft) gingen?“ • „Zu welchem Zeitpunkt konnten Sie schon ein klein wenig der erwünschten Zukunft erleben?“ • „Welche Fortschritte gab es noch?“ • „Was hat bereits funktioniert?“ • „Wann war es schon ein wenig besser als sonst?“ • „Wann lief es trotz Anspannung gut?“ Die Exploration dieser und ähnlicher Fra- gen führten zu einer ganzen Reihe von Verhaltensweisen, mit sozialen Situati- onen umzugehen, die von Anspannung begleitet waren. Das Interessante an ihren bisherigen Bewältigungsstrategien war, dass sie diese vornehmlich in einem pri- vaten und eher vertrauten Kontext ange- wendet hatte. Aus psychologischer Sicht könnte man die vorhandenen Strategien in drei Cluster einteilen: • Emotionales Selbstmanagement durch Achtsamkeit und Dissoziationstechni- ken • Stressreduktion durch positive Ablen- kung und Aufmerksamkeitsfokussie- rung • Aktivierung des parasympathischen Nervensystems durch gezielte Atem- techniken. Da es sich aber beim Lösungsfokussier- ten Ansatz um einen „Clever Client Ap- proach“ anstatt um einen „Clever Coach Approach“ (frei nach Weakland) handelt, geht es eben nicht darum, dem Klienten aufzuzeigen, was die allgemein psycho- logisch wirkungsvollen Wege wären, mit dieser Situation umzugehen. Vielmehr geht es darum, die Weisheit des Klienten zu nutzen und seine Bewältigungsstrate- gien zu verstärken, da diese ja auf jeden Fall beim ihm funktionieren. Aktuell war es noch so, dass die Manage- rin ihre Ressourcen und Verhaltensstrate- gien nicht bewusst und gezielt einsetzte. Im Gespräch darüber, wie sie die Strate- gien nutzt, welchen positiven Effekt sie haben und wie andere Menschen darauf reagieren, wurde ihr sehr schnell klar, was für sie die nächsten Schritte in Rich- tung einer positiven Veränderung waren. Das gezielte Einsetzen der ein oder ande- ren Verhaltensweise im privaten Kontext, war gut, um so mehr Praxis und Sicher- heit für den Einsatz im Berufsleben zu er- langen. Ihr Plan war es, bewusst schwie- rige soziale Situationen aufzusuchen und dabei die nun identifizierten Strategien einzusetzen, um mit diesen Situationen besser umgehen zu können. Mit dem Ge- winnen dieser Klarheiten waren sowohl die Phase „Ressourcen erkennen und erweitern“ als auch die erste Coaching- Sitzung abgeschlossen. In der zweiten Coaching-Sitzung wurde darauf fokussiert, welche Fortschritte er- folgt waren (3. Phase des Lösungsfokus- sierten Coaching-Ansatzes). Die Sitzung hat allerdings nicht sehr lange gedau- ert, da sie ihre – nun bewussten Stra- tegien – nicht nur im privaten Bereich, sondern auch schon im Business aus- probiert hatte. Da die Erfolge meistens, nicht immer, sehr überzeugend gewesen waren, hatte sie das Gefühl der Kontrolle über solche Situationen zurückgewon- nen. Mit anderen Worten: Ihre Selbst- wirksamkeitsüberzeugung hatte sich durch die positiven Erfahrungen stark zum Positiven verändert. Natürlich kam es immer noch vor, dass sie in besonders angespannten Situationen mit aufsteigen- den Tränen zu tun hatte. Gleichzeitig war sie aber auch sicher, dass die Emotionen beziehungsweise Tränen sie nicht über- wältigen würden, sondern sie solchen Si- tuationen und der Anspannung gewach- sen war. Am Ende der zweiten Sitzung wurde verabredet, dass sie sich wieder melden würde, wenn sie zusätzliche Unterstüt- zung für hilfreich hielt. Es kam allerdings nie zu einer dritten Sitzung, sondern le- diglich zu einem Anruf von ihr, dass sie gut allein weiter an ihren Verhaltensstra- tegien arbeiten könnte und ein Coaching nicht weiter notwendig sei. Genau dies ist das Ziel des Lösungsfokussierten An- satzes: Die Erkenntnis, alles zu haben, was man braucht, um seinen Zielen selbstständig und eigenverantwortlich näherzukommen und damit den Coach so schnell wie möglich überflüssig zu machen. Dabei liegt die Kraft der Verän- derung nur beim Klienten und nie beim Coach. Der Coach versucht, sich unsicht- bar zu machen. Jörg Middendorf Jörg Middendorf leitet das BCO Büro für Coaching und Organisati- onsberatung bei Köln. Er ist Dipl.-Psychologe, Senior Coach (DBVC), Professional Certi- fied Coach (ICF), Coach-Ausbilder und Autor der Springer-Fachmedien- Bücher „Lösungsorientiertes Coa- ching“ (2018) und „Lösungsorientier- tes Team-Coaching“ (2019). BCO Büro für Coaching und Organisationsberatung Augustinusstraße 11d D-50226 Frechen-Königsdorf Tel. 0049 2234 9335191 www.bco-koeln.de AUTOR
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