Wirtschaft und Weiterbildung 9/2020

training und coaching 44 wirtschaft + weiterbildung 09_2020 Maßnahmen, die die Robustheit Ihrer ei- genen finanziellen Situation und Vorsorge erhöhen. Ganz nach dem Motto, dass wir weder Zeitpunkt noch Stärke von Stür- men vorhersagen müssen, um stabiler und sturmsicherer bauen zu können. Lie- ber ein paar Stahlträger mehr und ein fes- tes Fundament, eine windfeste Dachkon- struktion und Rolläden vor den Scheiben – dann können wir auch angesichts des Sturmrisikos ruhiger schlafen. Jedoch ist als unerwünschte Nebenwir- kung der Nullzinspolitik und damit ext- rem preiswerter Kredite derzeit genau das Gegenteil zu beobachten. Sowohl Staaten als auch Private und Unternehmen haben – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bisher nie gekannte Höchststände an Kre- diten aufgetürmt. Und dies, obwohl hohe Schuldentürme angesichts einer drohen- den Finanzkrise – ganz wie hohe und ein- sturzgefährdete Wolkenkratzer im Erdbe- bengebiet – sowohl für Staaten als auch Unternehmen und Private risikoerhöhend sind und das gesamte Wirtschaftssystem destabilisieren können. Wenn erst mal ein Hochhaus umstürzt, kann es gut sein, dass es das nächste und auch das über- nächste mitnimmt. Zweifellos führen die wirtschaftlichen Folgen von Corona dazu, dass es in der Eurozone gleich an mehreren Stellen noch kräftiger knirscht als zuvor. Die zahlreichen Nebenwirkungen von Nied- rig-, Null- beziehungsweise Negativzin- sen sowie Finanzspritzen der EZB in nie gekannter Höhe sind jedoch nicht nur für die privaten Anleger und Vorsorger schmerzhaft, sondern gefährden immer stärker auch Finanzinstitutionen wie Banken, Versicherer, Pensionsfonds und Bausparkassen in ihrem Bestand. Ein Kol- lege beschrieb dies vor kurzem mit dem Satz: „Der Nullzins frisst sich immer tie- fer in unsere Wirtschaft.“ Als Folge zu- nehmender Schwierigkeiten der Finanz- institutionen wachsen zwangsläufig auch die Risiken für deren Kunden. Wer die von der Finanzdienstleistungsindustrie angebotenen Anlage- und Vorsorgepro- dukte nutzt (von Tagesgeldkonten und Bausparverträgen über Anlagezertifikate bis hin zu Lebens- oder Rentenversiche- rungen), der trägt das Risiko finanzieller Schwierigkeiten seines Finanzdienstleis- ters mit. Daher wird es zukünftig wichti- ger werden, die Risiken, die aus den Pro- dukten selbst stammen, zu verstehen und gegebenenfalls zu begrenzen oder ganz zu vermeiden. Diese Risiken werden als „Vehikelrisiken“ bezeichnet. Ein Abholschein für ein Rettungsboot ist noch lange kein Rettungsboot. Ebenso ist ein Anlagezertifikat auf Gold oder Rohstoffe eben nicht das gleiche wie der physische Besitz von Gold oder Rohstof- fen. Wenn Ihr Rettungsboot kentert oder untergeht, dann entspricht das einem Risiko der Anlageklasse. Es ist so, als ob Ihr Haus zerstört würde, Ihr Aktienport- folio sich im Wert halbiert oder Sie Ihre Goldmünzen verlieren. Nutzen Sie jedoch Finanzprodukte (=Vehikel), so haben Sie ein zusätzliches Risiko. Um im Bild zu bleiben, besteht dieses darin, dass Sie in der Krise für Ihren Abholschein kein Rettungsboot mehr bekommen (zum Bei- spiel weil man mehr Abholscheine ausge- geben hat als es überhaupt Rettungsboote gibt oder weil der Staat angesichts der Hochwassergefahr die Bootsausgabestelle geschlossen hat …). Das Risiko, welches sich aus Produkten (=Anlagevehikeln) der Finanzdienstleis- tungsindustrie ergibt, die die Wertent- wicklung der eigentlichen Anlagegegen- stände abbilden, wird als Vehikelrisiko bezeichnet. Unterschiedliche Vehikel sind unterschiedlich riskant. Es gibt relativ sichere Anlagevehikel wie Wertpapierde- pots, traditionelle Fonds oder preiswerte börsengehandelte Indexfonds (ETFs). Gleiches gilt für Einlagen bei Kreditins- tituten und Bausparkassen, sofern die Grenze der Einlagensicherung (100.000 Euro pro Einleger und Institut) einge- halten wird. Größere, aber leicht ver- meidbare Vehikelrisiken stecken in den Anlagezertifikaten, welche bei Schwierig- keiten der herausgebenden Bank wertlos werden können (Vielleicht erinnern Sie sich an die Lehman-Brothers-Pleite, die allein bei deutschen Anlegern rund eine Milliarde Euro Schaden verursachte). Leicht vermeidbar ist dieses Vehikelri- siko, da es gute Alternativen zu Anlage- zertifikaten gibt, sodass vorausschauende Bürger diese unschwer gegen risikoär- mere Produkte wie zum Beispiel ETFs (Exchange Traded Funds, also börsen- gehandelte Fonds) austauschen können. Aktien-ETFs bilden meist die Entwick- lung eines Index (wie die des Dax, des Euro-Stoxx oder des Dow-Johnes) ab und ermöglichen somit sehr preiswert und transparent eine weitgehende Streuung der angelegten Gelder. Im Gegensatz zur Situation bei Anlagezertifikaten liegt das in ETF investierte Geld in einem insol- venzgeschützten Sondervermögen und ist somit erheblich sicherer. Kurzum: Kurzum: Die aktuell von Deutschen in Anlagezertifikaten investierten rund 70 Milliarden Euro, sind aus meiner Sicht genau 70 Milliarden Euro zuviel. Schwieriger wird es bei den Vehikelrisi- ken aller Sparvorgänge im Versicherungs- mantel wie kapitalbildenden Lebens- und Rentenversicherungen, fondsgebundenen Rentenversicherungen sowie Riester- und Rürup-Versicherungen). Vom Neuab- schluss solcher Verträge ist angesichts der Vehikelrisiken – von Ausnahmen abgese- hen – leider völlig abzuraten. Ebenso von einer weiteren Erhöhung von Einzahlun- gen im Zeitablauf, die auch als Beitrags- dynamik bezeichnet wird. Sofern jedoch langjährige Bestandsverträge bestehen, stecken Betroffene in der Zwickmühe zwischen möglichen Verlusten bei Wi- derruf oder Kündigung der Verträge einer- seits und dem Tragen des Vehikelrisikos andererseits. „Systemschutz geht unserem Staat vor Verbraucherschutz“ Die unerfreuliche Tatsache, dass derzeit zwischen einem Viertel und einem Drittel der deutschen Lebensversicherer unter der intensivierten Kontrolle der deut- schen Finanzaufsicht (BaFin) stehen, zeigt, dass die Sorge vor Vehikelrisiken bei kapitalbildenden Versicherungsverträ- gen keineswegs ein „theoretisches“ Prob- lem ist. Ich fürchte, Sie werden über Ve- R „Ein Abholschein für ein Rettungsboot ist noch lange kein Rettungsboot.“

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==