Wirtschaft und Weiterbildung 9/2020
personal- und organisationsentwicklung 26 wirtschaft + weiterbildung 09_2020 emotionale Geschehen in Präsenzforma- ten und der Austausch in Pausen bieten aber darüber hinaus wertvolle und kaum virtualisierbare Vorteile: • die spontane Flexibilität wie das Auf- teilen von Arbeitspaketen in schnell zu bildende Arbeitsgruppen • die Chance, auch averbale Signale überhaupt wahrzunehmen und damit ansprechbar und nutzbar zu machen • aus der bei den unmittelbaren Diskur- sen frei werdenden Energie nach dem intensiven Ringen etwas Gemeinsames entstehen zu lassen. Ein weiterer Bereich, in dem aktuell ver- sucht wird, vieles zu virtualisieren, sind Weiterbildung, Trainings und Seminare. Viele Anbieter versuchen, frühere Prä- senzformate in Live-Onlineformate zu transferieren. Mit den einschlägigen Tools stehen gute technische Möglichkeiten zur interaktiven Gestaltung zur Verfügung. Apps ermöglichen das kollaborative Ar- beiten an Dateien, auf geteilten White- boards können Ideen skizziert werden, Onlineabstimmungen ermöglichen eine Beteiligung und Teilaufgaben können auch in virtuelle Break-Out-Gruppen ge- geben und danach wieder im virtuellen Plenum zusammengeführt werden. Virtuelle Seminare wirken auf die Teilnehmer „flacher“ Aber auch hier gilt: Es kommt auf die Intention an. Reine Wissensvermittlung passiert heute schon vielfach über Web- Based-Trainings oder MOOC-ähnliche Formate. Wenn es bei den Seminaren aber vor allem um interaktiven Aus- tausch und gemeinsames Lernen (wie bei Simulationen mit integrierten Transfer- phasen), Beobachten und Austausch von Feedback (wie in Kommunikations- oder Führungskräfteseminaren) geht, ist eine hohe Synchronizität förderlich. Dies wird durch die Live-Onlineformate im Ver- gleich zu Präsenzformaten deutlich weni- ger unterstützt. Die Versuche, das, was im Präsenzmodus funktioniert, durch eine weitgehende 1:1 Übertragung ins Virtu- elle zu erhalten, führt nicht zum Erfolg. Die Wirkung geht verloren. Der gemein- same Raum und das unmittelbare Erleben einer Diskussion, der direkte Umgang mit Einwänden, Widersprüchen und Ergän- zungen, auf die man spontan und sofort eingehen und sie damit für gemeinsames Lernen nutzbar machen kann, spielt eine wichtige Rolle für das Lernerlebnis und die Lernerfahrung. Gemeinsames Lernen, Austausch von Erfahrungen und unter- schiedlichen Sichtweisen (nicht zuletzt und oft auch in den Pausen), Identifika- tion mit den Diskussionsthemen, all das stärkt das Miteinander, fördert Identifika- tion und Kohärenz, weil man etwas ge- meinsam erlebt hat. Virtuelle Seminare, die versuchen, viel Austausch zu ermöglichen, wirken ge- genüber den Diskussionen unter Anwe- senden meist etwas gekünstelt und steril – so wie ein Theaterstück im TV anders (flacher) wirkt, als wenn man die Akteure live vor sich auf der Bühne agieren sieht. Der Hype um die Virtualisierung wird abnehmen Digitalisierung ist weder gut noch schlecht. Die Virtualisierung der Kom- munikation in Unternehmen in Form von Live-Onlineformaten ist da keine Ausnahme. Sie verbreitert auf alle Fälle die Optionen für den Austausch und die Kommunikation in Organisationen. Es gibt aber – wie immer – auch hier kein „one size fits all“. Live-Onlineformate sparen Zeit und Geld, können recht un- aufwendig anberaumt werden und er- möglichen zum Beispiel das gemeinsame Arbeiten an Dateien in Echtzeit. Wer sich nicht sehen will, kann auch unsichtbar bleiben oder man begegnet sich als Ava- tare in dreidimensional animierten Räu- men. Unabhängig davon, welche Technik man nutzt: Alle blenden wichtige Kommunika- tionssignale aus, reduzieren sie oder er- zeugen eine unnatürliche Gesprächs- und Kommunikationssituation. Das hat Aus- wirkungen und mit dem Begriff „zoom fatigue“ hat das schnell eine sprachli- che Begriffsbildung erfahren. Dennoch: Durch klugen Umgang mit dem, was man in einem Live-Onlineformat erreichen möchte, kann man sich unter Umständen auch die Nebenwirkungen gezielt zu- nutze machen. Bei allem was (virtuell) möglich ist und vorgeplant werden kann, ist online kein adäquater und voller Ersatz für informelle persönliche Interaktionen. Man würde das Kind (persönliche Interaktionen) mit dem Bade ausschütten, wenn man einem Hype des Alles-virtuell-Machens frönen würde. Nur weil etwas möglich ist, stif- tet es nicht automatisch einen optimalen Nutzen. Die Begeisterung über gezoomte Workshops sollten den Blick auf den Wert des persönlichen, direkten und auch in- formellen Austauschs nicht verstellen. Informelle persönliche und direkte Kom- munikation ist gerade durch ihren unge- planten und spontanen Charakter und ihre Synchronizität wertvoll. Sie ist von der Möglichkeit persönlicher Begegnun- gen abhängig. Langsam merkt man, was alles durch dieses Schmiermittel in Organisationen reibungsloser oder manchmal sogar über- haupt erst (wie geschmiert) lief. Work- shops und Seminare, die sehr stark von der gegenseitigen Wahrnehmung, dem schnellen Austausch untereinander, dem Voneinander-Lernen und Ideenschöpfen leben, werden in der Praxis durch die Vir- tualisierung begrenzt. Die Kreativität, die im direkten Austausch möglich wird, die Problemlösungen, die durch die Kaffee- küchengespräche entstehen, brauchen diese Synchronizität in den Interaktionen. Das wird immer deutlicher, weil sie (zu sehr) zu fehlen beginnt. Dr. Wolfgang Karrlein R Dr. Wolfgang Karrlein ist Gesellschafter und Geschäfts- führer der Canmas GmbH in Grünwald. Er greift bei seiner Beratungstätigkeit auf 20 Jahre Erfah- rung in einem internationalen Konzern zurück. Seine fachlichen Schwer- punkte sind Organisationsentwick- lung, Leadership Development und Change Management. Zudem ist er zertifizierter Business Coach (DVCT). Canmas GmbH Nördliche Münchner Str. 47 82031 Grünwald Tel. 089 416173560 www.canmas.biz AUTOR
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