Wirtschaft und Weiterbildung 9/2020
R wirtschaft + weiterbildung 09_2020 25 Wiederentdeckung führen könnten: die Wiederentdeckung der synchronen, in- formalen und persönlichen Interaktion. Unternehmen sind auf die koordinierte Zusammenarbeit vieler angewiesen und erreichen das vor allem mit den Bedin- gungen der Mitgliedschaft. Wer in der Or- ganisation ist, bindet sich an die formalen Strukturen, wie definierte Kommunika- tionswege, Ziele, Prozesse, Programme und die jeweiligen Personen als Chef. Vertrauliches Vernetzen klappt so gut wie nie im Virtuellen Das reicht aber nicht. Alle Unternehmen müssen mit sehr widersprüchlichen Er- wartungen von innen und außen um- gehen. Sie können nie alles formal vor- denken, entscheiden und regeln. Daher entwickeln sich informelle Strukturen: Grauzonen für Entscheidungen, erprobte Trampelpfade und ähnliche Effekte. Erst durch sie bleiben Organisationen flexi- bel – auch schon vor und jenseits eines verklärten agilen Mindsets. Nicht selten sind Problemlösungen auf der informel- len Ebene schneller oder überhaupt erst zu finden – weil man nicht schnell genug oder überhaupt formale Entscheidungen über die Hierarchie (so flach sie auch sein möge) herbeiführen kann. Diese informellen Problemlösungsme- chanismen basieren oft auf persönlichen Interaktionen. Kreativität im Umgang mit Problemen entsteht selten im „stillen Kämmerlein“ eines Büros. Nicht umsonst dienen Cafeterien auf dem Firmengelände weniger dem Wachhalten der Mitarbei- tenden als der Möglichkeit für informel- len Austausch. Dort spricht man sich über das weitere Vorgehen ab, klärt Miss- verständnisse in anderer Atmosphäre, tauscht sich „off the record“ aus und bastelt so manchen Testballon für Prob- leme oder neue Ideen. Dieses vertrauliche Verknüpfen, Vernetzen, Vermitteln und Vereinbaren kann so gut wie nicht in den virtuellen Raum gezoomt werden. Chats haben ähnlich wie E-Mails zwar gefühlt einen Charakter wie das ge- sprochene Wort, sind aber im Endeffekt schriftlich. E-Mails sind nicht umsonst nicht nur nach meiner Beobachtung und Erfahrung eine große und reichhaltige Quelle von Konflikten. Durch persönliche Klärung wäre der Ball flacher zu halten, mit weniger Eskalationen in die „Hierar- chie“ deutlich leichter zu lösen und meist auch deutlich schneller zu klären gewe- sen. Das gesprochene Wort ist vor allem für Informalitäten passender, weil „flüch- tiger“. Es braucht (spontan mögliche) physische Begegnung – keine mindestens semioffizielle und oft serielle Kommuni- kation in Live-Onlineformaten. Die Beob- achtung ist: Viele Organisationen merken, was alles vorher „so nebenher“ geregelt, abgesprochen und abgefedert wurde, weil man sich mal schnell auf einen Kaffee ge- troffen hat, zum Schreibtisch der Kollegin rübergehen oder sich kurzfristig zu einem Gespräch treffen konnte. Solche Formen des Austauschs profitierten vom informa- len und inoffiziellen Charakter. Sie waren deshalb nicht weniger verbindlich, son- dern konnten sogar Vertrauen fördern. All das ist mit Live-Onlineformaten kaum so abbildbar. Diese brauchen meist mehr ge- plante Koordination, sind damit weniger kurzfristig, aufwendiger, weniger spontan und haben auch immer einen Touch des Offiziellen. Wiederentdeckung des unmittelbaren Diskurses Man kann Workshops und Seminare in Live-Onlineformate überführen – und wenn es anders nicht oder kaum mög- lich ist, ist das besser als nichts. Diese Formate reduzieren allerdings die Syn- chronizität des Austauschs. Je mehr der unmittelbare Austausch, der Diskurs und das Ringen um Verständigung (zum Beispiel in Workshops zu komplexen or- ganisatorischen Themen) oder auch je mehr das schnell Aufeinandereingehen, die breite Wahrnehmung von averbalen Signalen, das unmittelbare Feedback oder der schnelle, unkomplizierte Wechsel zwischen Parallelität und Verdichten im Plenum (zum Beispiel in Seminaren zum gemeinsamen Lernen und Finden neuer Lösungen) der eigentliche Kern eines Treffens ist, desto nachteiliger wirken Live-Onlineformate. Sie haben nicht die Flexibilität und Synchronizität dafür. Workshops mit Beteiligten aus unter- schiedlichen Funktionen im Unterneh- men und ihren divergierenden Interessen und Perspektiven (lokale Rationalitäten), wenn es also kein „richtig“ oder „falsch“ gibt, sondern um Verständigung gerun- gen und Vertrauen aufgebaut werden und man mit Machtspielen umgehen muss, sind Präsenzformate (fast) immer die bes- sere Wahl – zumindest am Beginn solcher Diskurse. Sicherlich kann man auch im Virtuellen durch konsequentes Visualisie- ren der Diskussionen Inhalte und unter- schiedliche Perspektiven sichtbar machen und festhalten. Das ist auch für Präsenz- workshops sinnvoll. Das diskursive und
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