Wirtschaft und Weiterbildung 9/2020
personal- und organisationsentwicklung 24 wirtschaft + weiterbildung 09_2020 Fall belegt es „mentale Bandbreite“: es zieht den Fokus vom Gespräch ab und kostet Energie, besonders, wenn wir den Impuls für diesen Selbstkontrollblick un- terdrücken wollen. Zudem mag es dazu führen, dass man „gekünstelt“ rüber- kommt. 2. Die Entspannung durch Ablenkungen In realen Situationen ist die Möglichkeit gegeben, seine Aufmerksamkeit vom Sprechenden abzuwenden – mit einem Blick auf andere Teilnehmer oder aus dem Fenster. Das sorgt für kurze Ent- spannungen. In Live-Onlineformaten ist das nicht möglich. Wir stehen (gefühlt) unter ständiger Beobachtung und können auch nicht mal die Blicke schweifen las- sen. Diese Effekte in Summe zehren an der Konzentration und machen video-ba- sierte Kommunikation anstrengend. Viel- fach wird inzwischen darauf so reagiert, dass die Videoübertragung ausgeschaltet wird. Der Preis dafür ist, dass dann erst einmal jeder für sich ist. Der Inhalt des Gesprächs tritt massiv in den Fokus. 3. Zuordnung von Gesprächsinhalten Live-Onlineformate sind Gesprächsseriali- sierungstools. Es ist kaum möglich, noch etwas „mitzubekommen“, wenn einmal zwei oder drei Teilnehmende gleichzeitig etwas sagen. Bei realen Gesprächssituati- onen ist da mehr Redundanz dabei, weil wir sehen können, wer spricht und es uns durchaus gelingt, trotz paralleler Sprecher selektiv der ein oder anderen Person zu- zuhören. In Live-Onlineformaten versuchen die Systeme eine sprechende Person hervor- zuheben und die Lautstärke der ande- ren zu unterdrücken. Die Technik kann nicht entscheiden, wem wir gerade von mehreren sprechenden Personen zuhö- ren wollen. Insofern ist es schon erstaun- lich, zu welchen Filterleistungen wir in realen Situationen fähig sind. Kurze Sei- ten- und Nebengespräche sind in Live- Online-Formaten nicht möglich. Es ist unwahrscheinlich, dass die gemeinte Person überhaupt mitbekommt, dass sie gemeint ist. Sich kurz zum Sitznachbarn zu wenden, macht es recht eindeutig, wer gemeint ist. Aber selbst wenn: Es stört und alle bekommen es mit. Der Chat ist dafür kein wirklicher Ersatz. Es fehlt die Spontaneität und Flüchtigkeit eines sol- chen kurzen Seitengesprächs. Und es kann schnell passieren, dass auch das alle mitbekommen, wenn man merkt, dass beim Chat als Empfänger „alle“ einge- stellt ist. Je mehr Teilnehmende „im Call“ sind, desto weniger ist (sofort) klar, wer spricht. Sicherlich versuchen die Systeme, den aktuell Sprechenden hervorzuheben. Das gelingt aber oft nur mit zeitlicher Verzögerung und – bei Nebengeräuschen oder mehreren Sprechern – gar nicht. Da wir aber erkennen möchten, wer spricht – weil es wichtig ist, wer was in welcher Rolle sagt – sind wir darauf angewiesen, die Stimme zu erkennen. Auch diese Interpretationsleistung kostet mentale Bandbreite und zieht Aufmerksamkeit vom Inhalt und dem Gespräch ab. Vor allem in Diskussionen ist es wichtig, auch zu bemerken, wie andere relevante Akteure sich zu dem Gesagten äußern – ohne dass sie sprechen. In Präsenzforma- ten ist das leicht möglich. 4. Der Verlust der Sozialdimension Bei den Live-Onlineformaten wird die Sachdimension in der Kommunikation deutlich verstärkt, da Präsentationen und die kollaborative Bearbeitung von White- boards, Lucidcharts, Powerpoints oder anderen Formaten die Aufmerksamkeit immer stark auf die Inhalte fokussiert. Wie Kai Matthiesen und Jonas Spengler in ihrem kürzlich veröffentlichten Bei- trag zeigen, kann diese Fokussierung gezielt(er) genutzt werden, um genau diese Aufmerksamkeit auf die Inhalte zu lenken und damit averbale Zeichen auszublenden, die die Verständigung in Präsenzzusammenkünften leicht er- schweren. Es muss „nur“ klug vorgeplant werden. Der „Verlierer“ dieser Fokussierung auf die Sachdimension der Kommunikation ist die Sozialdimension (keine Selbst- darstellungsmöglichkeiten der Personen, keine Wahrnehmung kleiner Nebenge- spräche und von averbalen Bekundun- gen). Besonders im Hinblick auf mikro- politische Diskurse verändert dies den Austausch, die Verständigung und die Machtspiele. In allen Organisationen ist Aufmerksamkeit ein knappes Gut – nicht nur in Diskussionen und Meetings. Um bei den (formalen) Entscheidungsträgern in der Hierarchie Themen zu platzieren, braucht es deren Aufmerksamkeit. Wer diese für seine Themen gewinnt, kann seine Interessen und Anliegen leichter anbringen und durchsetzen. Wenn in der Kommunikation ein größerer Fokus auf der sachlichen Ebene liegt, hat das Fol- gen auf der Beziehungsebene zwischen den Akteuren. Es werden dadurch ten- denzielle fachliche Kompetenzen und Erfahrungen wichtiger. Naturgemäß sind diese viel weniger an der Spitze von Hier- archien konzentriert. 5. Zeitdimension Weil die Konzentration in Live-Onlinefor- maten wie oben dargestellt schneller auf- gebraucht wird, ist eine stärkere zeitliche Begrenzung als bei Face-to-Face-Meetings sinnvoll. Pausen werden also wichtiger, können aber nicht für den informalen und sozialen Austausch genutzt werden. Workshops, Diskussionen, interaktive Se- minare und Ähnliches erfordern mehrere und kürzere Blöcke sowie ein strafferes Zeitmanagement im Virtuellen. Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Es gibt Hinweise, dass die durch die intensive Nutzung erfahrenen (Neben)Wirkungen von Live-Onlineformaten zu einer Ent euphorisierung beziehungsweise einer R
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