Wirtschaft und Weiterbildung 9/2020

R wirtschaft + weiterbildung 09_2020 23 formate verlegt. In der Weiterbildung sind Präsenzformate auf breiter Front abgesagt oder auf unbestimmte Zeit ins nächste Jahr verschoben. Vieles wurde und wird auf den Prüfstand gestellt („Brauchen wir das und brauchen wir es jetzt?“). Von Se- minaranbietern wird aus wirtschaftlichen Gründen massiv versucht, Live-Online- formate zu stricken und anzubieten. Die Anbieter der entsprechenden Plattformen wie Microsoft, Zoom, Slack und allen an- deren sind die Gewinner der Krise und befördern dieses „next big thing“ selbst- verständlich. Auf der „Schauseite“ der Unternehmen findet eine schon fast explosionsartige „Virtualisierung“ von vormals im realen Hier und Jetzt abgelaufenen Zusammen- künften statt. Wie oft bei der Schauseite, weiß man von außen nicht recht, was tat- sächlich abläuft: • Ist das das berühmte Pfeifen im Wald? • Oder ist da etwas im Gange, was blei- ben wird? • Werden solche Live-Onlineformate zum new normal? • Was würde man gewinnen, das (noch mehr) weiterzuführen? • Was übersieht man im Moment (weil es auch kaum anders geht)? • Was könnte man sich einhandeln, wenn man (weiterhin und künftig noch viel stärker) auf solche Formate für Meetings, Besprechungen, Planungs- abstimmungen oder Workshops, Semi- nare, Trainings setzen würde? Im Folgenden soll der Beobachtung nach- gegangen werden, dass eine allzu starke Verschiebung solcher Diskurse und Aus- tauschformate ins Virtuelle dazu führt, dass den Unternehmen damit etwas We- sentliches (weitgehend) abhanden kom- men könnte – nämlich der informelle Austausch unter Anwesenden, der als Schmiermittel für jedes Unternehmen wirkt. Risiken und Nebenwirkungen von Live-Onlineformaten Live-Onlineformate blenden viele nicht- sprachliche (averbale) Signale aus oder reduzieren sie deutlich. So entstehen im Vergleich zu realen Begegnungen gewöh- nungsbedürftige (Ermüdungs-)Situatio- nen, die mit dem Begriff „zoom fatigue“ auch schon eine Bezeichnung gewonnen haben. In der zwischenmenschlichen Kommunikation spielt nicht nur die rein sprachliche Verständigung eine Rolle. Sie wird teil- und unbewusst durch eine ganze Reihe averbaler Signale beglei- tet (zum Beispiel Lautlichkeit, Gestik, Mimik, Mikroexpressions, Blick, Ab- stand). Die „Mikroexpressions“ von Paul Ekman (US-amerikanischer Anthropologe und Psychologe, der für seine Forschungen zur nonverbalen Kommunikation be- kannt wurde) sind da nur ein interes- santes Beispiel. Solche averbalen Signale haben einen wesentlichen Anteil, wie die Botschaft beim Empfänger aufgenom- men, interpretiert und bewertet wird. Die Reaktion darauf basiert eben nicht auf dem, was der Sender gemeint hat, son- dern auf den Interpretationen und Bewer- tungen, die der Empfänger vornimmt: die Botschaft entsteht beim Empfänger. Das kann von einem „blinden Verstehen“ bis zu massiven Missverständnissen reichen und macht Kommunikation zu einem komplexen Prozess. In Diskussionen, Workshops, Kommuni- kations- oder Führungsseminaren spie- len solche Aspekte eine wichtige Rolle, wenn es um einen intensiven Austausch im Hier und Jetzt (Synchronizität) geht. Sei es, weil man um gegenseitige Ver- ständigung ringt oder weil man sich der vielen Aspekte von Kommunikation in seiner Führungsrolle bewusst(er) wer- den soll. Da spielt es eben eine wichtige Rolle, welche averbalen Signale neben dem Gesagten noch ausgesendet werden. Wie schaut die Chefin drein? Was macht mein Nachbar? Warum holt sich der Kol- lege gerade dann was zu trinken, wenn man nach einer Pause eigentlich weiter- machen will? So gut wie alle Live-Online- formate blenden viele dieser averbalen Signale komplett aus oder reduzieren sie trotz Videoübertragung erheblich: 1. Visuelle Wahrnehmung Video-Konversationen bedeuten, dass man in die Computerkamera blicken muss, damit sich die Person(en) angese- hen fühlen. Damit können wir als Spre- cher der anderen Person aber eben nicht in die Augen sehen – wie es in einer nor- malen Unterhaltung unter Anwesenden der Fall ist. So entsteht eine paradoxe Situation: Blickkontakt für den anderen bedeutet, selbst keinen direkten Blick- kontakt haben zu können. Das kommt zusätzlich zur sowieso eingeschränkten Wahrnehmung averbaler Signalen dazu. Bei größeren Runden hat man sowieso keine Chance, alle Teilnehmenden we- nigstens im peripheren Blick zu behalten. Ein zweiter ungewöhnlicher Aspekt ist: wir sehen uns in den Gesprächen immer selbst. Jeder dürfte sich schon „ertappt“ haben, sein Videobild angesehen zu haben. Wir können sehen, wie uns die anderen sehen. Das kann mit der eigenen Vorstellung, wie einen die anderen gerade sehen, kollidieren. Selbst wenn das nur sehr kurze Kontrollblicke sind, in jedem

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