Wirtschaft und Weiterbildung 1/2020

wirtschaft + weiterbildung 01_2020 53 Woran denken Sie beim Bildungssystem konkret? Baudis: In der Schweiz und in den USA ist es Universitäten erlaubt, Start-ups zu gründen. Das müssten wir auch zulas- sen. Obwohl die amerikanischen Univer- sitäten hohe Studiengebühren erheben, verdienen sie inzwischen mehr Geld mit- hilfe ihrer Start-ups. Auf deutsche Uni- versitäten übertragen, hätten diese nicht mehr nur einen Bildungsauftrag, sondern auch einen unternehmerischen Auftrag. Sie könnten Arbeitsplätze schaffen und Know-how im Land halten, indem sie Ab- solventen Geschäftsräume, Forschungs- möglichkeiten und Investoren bieten. Das wäre eine relativ einfache Möglichkeit, um Deutschland wieder in ein Kompe- tenzzentrum zu verwandeln. Solange wir das nicht bieten, wandern die Fachleute eben zu Google oder Alibaba ab. Ob digitalaffin oder nicht, viele Men- schen haben Berührungsängste gegen- über der künstlichen Intelligenz (KI) ... Baudis: Ich habe das Gefühl, dass alle von KI sprechen, aber niemand weiß, was gemeint ist. Im Beruf ist KI in erster Linie eine Hochgeschwindigkeitsstatistik, die sehr valide ist und mich dabei unter- stützt, bessere Entscheidungen zu treffen. So kann ich zielgerichteter Prozesse steu- ern, Produkte erfinden oder Maschinen warten. Dieses Rollenverständnis der KI als Zweitmeinung muss im Unternehmen unbedingt vermittelt werden. Ohne unsere Daten leben KI, Big Data, Deep Learning oder Internet der Dinge allerdings nicht. Für Statistiken auf Knopfdruck oder ein paar personalisierte Lerneinheiten ist das ein hoher Preis. Baudis: Der Gesetzgeber muss natürlich die Rahmenbedingungen schaffen und unsere Daten schützen. Die Europäische Union ist beim Datenschutz im Vergleich zu den USA oder China auf einem sehr guten Weg. Und welche meiner Daten ich freigebe, liegt letztlich in meiner eigenen Verantwortung. Ich muss meine Lernein- heiten ja nicht personalisieren, genieße dann allerdings auch nicht die Vorteile. Und welche Vorteile sind das? Baudis: Der Lernprozess wird viel effizi- enter, wenn das Programm meinen Lern- stand kennt und es sich auf mich einstel- len kann. So komme ich nicht nur schnel- ler voran, ich bin auch weniger frustriert und viel motivierter bei der Sache. Im Zusammenhang mit Digitalisierung wird häufig von einer Demokratisierung der Bildung gesprochen. Haben wir in Zukunft alle die gleichen Chancen auf Zugang zu Bildung? Baudis: Es wird zumindest erheblich leichter sein – auch in den Entwicklungs- ländern. Die Demokratisierung erleben wir bereits. Wir nutzen sie aber noch zu wenig. Ich habe mich zum Beispiel im Bereich Deep Learning selbst fortge- bildet. Dafür habe ich mich einfach in amerikanische Universitäten eingewählt. Teilweise ist das sogar kostenlos möglich. Im Vergleich zum Studium vor Ort kann man sich auch heute schon unglaublich günstig fortbilden. Welchen Einfluss wird die Digitalisierung – auf lange Sicht gesehen – auf unser Verständnis von Arbeit und Weiterbildung haben? Baudis: Wir werden aufgrund rasanter Veränderungen viel flexibler sein müs- sen. Meine Generation ist es gewohnt, dass Wissen über drei Jahrzehnte Be- stand hatte, weil die Eintrittsbarrieren in Industrien so lange hielten. Auf einmal fallen diese Barrieren, was wiederum Prognosen viel schwieriger macht. Heute verkauft Amazon Versicherungen. Das wäre vor 25 Jahren undenkbar gewesen. Es ist einfach unklar, ob Produkte in 20 Jahren überhaupt noch relevant sein wer- den. Dadurch steigt der Wissensbedarf unglaublich an. Hinzu kommt, dass uns die beste KI nichts nützt, wenn wir mit ihrer Zweitmeinung nichts anfangen kön- nen. Wir müssen Experten auf unserem Gebiet werden. Ohne großes Fachwissen werden wir es schwer haben. Dement- sprechend flexibel müssen wir mit unse- rer Arbeit und Weiterbildung umgehen. Wissen muss laufend abgeglichen und angeglichen werden. Wer das schafft, wird dann vermutlich auch zufrieden im Job sein und darf sich auf eine gute Be- zahlung freuen. Welche Fragen würden Sie in Hinblick auf diese Aussichten 2030 im Vorstellungsgespräch stellen? Baudis: Ich würde erst wissen wollen, wo die Stärken der Person liegen und wo noch Fortbildungsbedarf besteht. So er- fahre ich gleich, ob sie sich mit ihren ei- genen Lernangewohnheiten auseinander- gesetzt hat. Daran anknüpfend würde ich fragen, wo und wie sie die entsprechen- den Kompetenzen erwerben will. Wer davon eine Vorstellung hat, wird später im Beruf auf einem sehr guten Weg sein. Interview: Tanja Stopper Christian Baudis. Auf der Learntec 2020 wird er einer der Keynoter sein.

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