Wirtschaft und Weiterbildung 1/2020

wirtschaft + weiterbildung 01_2020 45 eigenen Lösungen finden sollen, finde ich im Arbeitskontext sehr unplausibel. Die Mitarbeiter erwarten auch oft Fach- wissen von ihrem Chef. Wenn ich mit Knieschmerzen zum Arzt gehe und der mich auffordert, über die beste Lösung für meine Schmerzen nachzudenken, würde ich seine Kompetenz infrage stel- len. Denn ich gehe doch dorthin, weil er ein Experte ist. Dazu kommt, dass Vorge- setzte nicht dafür ausgebildet sind, Coa- chinggespräche zu führen und daher viel Schaden anrichten können. Auch das Konzept der „Achtsamkeit“ ist bei Ihnen ein Beinahe-Mythos ... Vermeren: Das ist ein ziemlich heikles Thema und viele werden sehr verärgert über meine Ausführungen sein. Ich war selbst durchaus offen für das Thema. Aber dann habe ich mir die Forschung dazu angeschaut und war sehr über- rascht, wie schlecht sie ist. Bis heute ist man sich nicht mal einig, ob es eher eine ideologische Bewegung oder eine psycho- logische Theorie ist. Bei einer Metaanalyse über die Effekte bei verschiedenen psychischen Störun- gen wie Depressionen, Ängsten und er- höhtem Stress erfüllten nur 19 von 2.448 Artikeln die Anforderungen an gute wis- senschaftliche Standards. Und dort fand man dann lediglich geringe Effekte bei Hypochondrie, also der unberechtigten Angst, an einer Erkrankung zu leiden. Bis heute gibt es keine Evidenz dafür, dass Achtsamkeit bei gesunden Menschen im Arbeitskontext positive Auswirkungen hat. Experimente und Metaanalysen zum Zusammenhang von Achtsamkeit und Motivation zeigen sogar, dass ein Acht- samkeitstraining die Motivation für das Engagement bei künftigen Aufgaben re- duziert und nicht einmal finanzielle An- reize diese demotivierenden Effekte wie- der aufheben können. Das dürfte kaum im Sinne der Unternehmen sein. Ich behaupte nicht, dass Achtsamkeit über- haupt nicht zu positiven Effekten führt, aber bisher fehlt es einfach an metho- disch guter Forschung dazu. Der größte Teil Ihres Buches handelt von Mythen und pseudowissenschaftlichen Methoden und Modellen, Sie beschreiben aber auch wissenschaftlich fundierte Alternativen. Wie wichtig war es für Sie, auch das zu zeigen? Vermeren: Das ist sehr wichtig, weil viele eben gar nicht wissen, was es bereits alles gibt. Viele wissenschaftliche Modelle oder Instrumente sind nicht öffentlich zugänglich, weil sie nicht für kommer- zielle Zwecke entwickelt wurden. Dabei sind sie manchmal sogar preiswerter und bieten bessere und akkuratere Informa- tionen. Der Buchtitel ist vielleicht etwas irreführend. Aber es gibt etwa 400 Seiten über Mythen, ungefähr 250 Seiten über teils wahre Methoden und ungefähr 400 Seiten über solide Erkenntnisse. Was gehört zum Beispiel zu den „soliden Ansätzen“? Vermeren: Grundsätzlich sind alle Evi- denzen immer nur vorläufig und können durch neue Forschung verbessert oder teils widerlegt werden. Es gibt nur eine Theorie, die ohne jegliche Zweifel bewie- sen ist und das ist die Evolutionstheorie. Ich glaube nicht, dass wir in der Psycho- logie oder in HR etwas haben, was dem nahekommt. Die Evolutionspsychologie gibt uns den besten Rahmen für gute Hy- pothesen. Wir sind nun mal soziale Lebe­ wesen und das hat positive und negative Aspekte. Wir wollen zu einer Gruppe gehören und neigen dazu, innerhalb unserer Gruppe zusammenzuarbeiten und keine unlautere interne Konkurrenz zuzulassen. Das gibt uns wertvolle Hin- weise für den Arbeitsalltag. Wenn wir zum Beispiel individuelle Leistungsziele vorgeben, fördern wir damit den internen Wettkampf. Auch zu zwischenmenschlichen Bezie- hungen gibt es gute Theorien. Für Verhal- tensänderungen bietet die kognitive Ver- haltenstherapie solide Grundlagen. Um die Persönlichkeit zu bestimmen, gibt es die fünf oder sechs wesentlichen Fakto- ren, die Big Five (OCEAN) oder HEXACO. Die sind sehr sinnvoll beim Coaching. Es gibt viele Ansätze mit starker empirischer Evidenz, etwa wie Ziele die Produktivi- tät steigern können oder wie man Füh- rungsfähigkeiten entwickeln kann. Das Problem ist nur, dass vieles nicht von den Wissenschaftlern promotet wird und daher vielen HR-Professionals unbekannt ist. Auch wenn Ihr Buch so manchem die Augen öffnen dürfte, fühlen Sie sich nicht manchmal auch wie der antike Held Sisyphos? Kaum haben Sie einen Mythos enttarnt, taucht garantiert schon der nächste auf? Vermeren: Leider stimmt das. Der Auf- wand an Zeit und Mühe, den es kostet, einen Mythos zu entlarven, ist ungleich höher als der Aufwand, neuen Unsinn zu erfinden. Zudem riskiert man noch, von den Promotern der Theorie oder Methode verklagt zu werden. Bullshit kann man schnell produzieren. Man erfindet einfach eine Theorie, bereitet sie hübsch auf mit schönen Grafiken und Farben, verpackt sie in eine Marketingkampagne und ver- dient viel Geld damit. Ich befürchte, der Kampf wird nie aufhören. Interview: Bärbel Schwertfeger „Meine Zielgruppe sind Menschen mit hohen mora­ lischen Standards, denen bisher einfach die Infor­ mationen fehlten, um sich ihre Meinung zu bilden.“ Buchtipp. „A Skeptic’s HR dictionary“. Das englischsprachige Buch kostet bei Amazon 125 Euro (ISBN-13: 978-9082763478). Darin entlarvt der Autor auf etwa 400 Seiten viele dubiose Mythen, schreibt auf etwa 250 Seiten über „teilweise“ brauchbare Methoden und erklärt auf wei- teren 400 Seiten solide, evidenzbasierte Ansätze und HR-Tools.

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