Wirtschaft und Weiterbildung 1/2020

training und coaching 44 wirtschaft + weiterbildung 01_2020 aufgeben. Diese beiden Gruppen werde ich also nicht überzeugen und das wäre auch nur Energieverschwendung. Mein Ziel ist daher die dritte Gruppe. Das sind Menschen mit hohen moralischen Stan- dards, denen bisher einfach die Informa- tionen fehlten, um sich ihre Meinung zu bilden. In Belgien, wo mein Buch schon bekannter ist, gibt es inzwischen viele HR-Professionals, die mein Anliegen un- terstützen. Allerdings befürchte ich, dass es gerade in den großen Unternehmen in den Trainings- und Entwicklungsabtei- lungen viele Mitarbeiter gibt, die an den Unsinn glauben, und die sind vermutlich das größte Problem. In Ihrem Buch beschreiben Sie 25 Mythen – zum Beispiel die derzeit sehr verbreitete Theorie von „Spiral Dyna- mics“ und der „Integralen Theorie“, die vor allem von Frédéric Laloux in seinem Buch „Reinventing Organizations“ ver- treten wird. Wenn man Ihr Kapitel dazu liest, fragt man sich, warum intelligente Menschen so einen esoterischen Unsinn glauben. Was denken Sie? Vermeren: Das ist wirklich erstaunlich. Aber da kommt wieder unsere Neigung zur Faulheit ins Spiel. Ich denke, wenn ein Unternehmen an das Modell von Frédéric Laloux glaubt, hat vermutlich niemand dort das Buch wirklich gründ- lich gelesen. Denn schon auf Seite drei schreibt er völligen Unsinn, nämlich dass wir drei Hirne haben. Viele wissen nicht, dass das auf das Modell der acht Stufen menschlicher Existenz des Psy- chologen Clare Graves zurückgeht, der von der Wissenschaft nie ernst genom- men wurde. Und als man seinen Schüler Christopher Cowan fragte, wo denn die empirischen Belege für die Theorie von Graves sind, erzählte er, dass dieser sie in seiner Scheune aufbewahrt und sie beim Aufräumen versehentlich wegge- worfen hatte. Sein Modell verleugnet, dass wir ein Produkt der Evolution sind und behauptet, dass wir uns in ruckarti- gen Quantensprüngen von einer Stufe zur nächsten weiterentwickeln, bis wir eine neue Stufe erreicht haben, auf der wir demWettbewerb und Egoismus abschwö- ren und durch und durch gute Menschen werden. Der Amerikaner Ken Wilber hat das Modell in seiner integralen Theo- rie aufgegriffen, einer wilden Mischung aus Ideen der traditionellen Philosophie, Mystik, Spiritualität, New Age und Psy- chologie. Und die wiederum ist die Basis von Frédéric Laloux. Auch er glaubt, dass wir in einer Spiralen förmigen Bewegung aufsteigen und transzendieren und so zu einem idealen Lebewesen werden. Das kommt natürlich gut bei den plato- nischen Idealisten an, die daran glauben wollen, dass der Mensch prinzipiell gut ist und daher auch alles ohne Führung funktioniert. Die Menschen mögen sol- che Geschichten. Aber das ist eine totale Verleugnung der modernen Wissenschaft und allem, was wir über Biologie und die menschliche Entwicklung wissen. Spiral Dynamics oder die integrale Theorie sind Ideologien. Das ist eher ein religiöser An- satz und nicht eine Methode, die Unter- nehmen dabei unterstützt, produktiver zu werden und sich um das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter zu kümmern. Statt sol- chen naiven Theorien zu glauben, sollten die Unternehmen lieber die Realität ak- zeptieren und mit fundierten Methoden an einer Verbesserung der Arbeitsbedin- gungen arbeiten. Sich selbst managende Teams und führerlose Organisationen beschreiben Sie als „Beinahe-Mythos“ ... Vermeren: Wenn ich die beiden Kriterien der fundierten Theorie und der nachweis- baren Evidenz nehme, dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass das funktioniert. Führung ist etwas, dass sich in Jahrmilli- onen bei allen sozialen Lebewesen und auch beim Menschen entwickelt hat. Wir sind ein soziales Lebewesen und da spielt Führung bei der Koordination gemein- samer Aktionen und der Reduzierung von Konflikten in der Gruppe eine sehr wichtige Rolle. Warum sollen wir nun plötzlich keine Führung mehr brauchen? Es gibt absolut keine Erklärung dafür, warum die Evolution plötzlich einen so bedeutenden Sprung gemacht haben soll. Es gibt einige Theorien dazu, wie die so- ziotechnische Systemtheorie. Aber sie alle kommen letztlich zu dem Schluss, dass es nicht funktioniert. Wenn man die empi- rische Seite anschaut, sieht es nicht viel besser aus. Es gibt keine Belege für er- folgreiche Organisationen ohne Führung. Das gilt auch für sich selbst managende Teams. Das ist das einzige Kapitel, wo ich mir einige Anekdoten aus Unternehmen angeschaut habe, die behaupten, keine Führung mehr zu haben wie Semco oder Morning Star. Die meisten haben sehr wohl Führung, manchmal sogar sehr stark und autoritär. Selbst diese Anek- doten sind also nicht korrekt. Auch die führerlose Organisation ist etwas, was für viele verlockend klingt und woran sie gern glauben. Ein anderer Mythos, den Sie beschrei- ben, ist der Ansatz, dass Führungskräfte Coach für ihre Mitarbeiter sein sollen … Vermeren: Es ist sehr schwierig und zwar sowohl für Führungskräfte als auch für Mitarbeiter, zwischen den beiden Rol- len zu unterscheiden. Denn die meisten Vorgesetzten sind auch für die Leistungs- bewertung zuständig und entscheiden daher über die Karriere eines Mitarbei- ters. Gleichzeitig sollen sie ihn coachen. Das funktioniert nicht. Für die Mitarbeiter ist das ein Dilemma. Wenn sie ihrem Vor- gesetzten vertrauen und über ihre Schwä- chen und Ängste sprechen, müssen sie befürchten, dass sich das auch auf ihre Bewertung und Karriere auswirkt. Denn diese Informationen sind nun mal im Kopf des Vorgesetzten und spielen daher unbewusst auch bei seiner Bewertung eine Rolle. Nicht ohne Grund verpflichten sich Psychotherapeuten zur Diskretion und dazu, die Informationen nicht für andere Zwecke zu nutzen. Empirische Belege dafür, dass es positive Effekte hat, wenn der Vorgesetzte als Coach agiert, gibt es nicht. Auch die Idee, dass Mitarbeiter ihre R „Personalabteilungen haben eine besondere Anziehungskraft auf Idealisten, die ihre Überzeugungen für wichtiger und glaubwürdiger halten als die akademische Forschung.“

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