Wirtschaft und Weiterbildung 1/2020
R wirtschaft + weiterbildung 01_2020 43 Leichtgläubige, Romantiker und Idea- listen hat, die ihre Überzeugungen und Erfahrungen für wichtiger und glaub- würdiger halten als die akademische Forschung. Oft wissen sie auch gar nicht, dass sie damit im Widerspruch dazu ste- hen. HR-Verantwortliche sind häufig pla- tonische Idealisten und glauben daran, dass alle Menschen grundsätzlich gut, talentiert und intrinsisch motiviert sind. Und sie glauben auch stark an Egalitaris- mus. Ein drittes Problem ist die Psychologie der Koalition. Sobald man sich zu einem virtuellen Stamm oder einer Gruppe (Engl.: in-group) rechnet, die an den platonischen Idealismus glaubt, ist es sehr schwer, sich von dieser Gruppe zu distanzieren. Dann will man nicht wahr- haben, dass es auch Menschen gibt, die nicht talentiert oder motiviert sind, weil man Loyalität zu seiner Gruppe zeigen will. Denn bei unseren Vorfahren war das sehr wichtig, da nur die Gruppe Schutz vor den anderen Gruppen und Raub tieren bot. Das steckt noch immer in uns. Wenn HR-Professionals also zu den Anhängern von C. G. Jung gehören und dementsprechend Persönlichkeitsfrage- bogen MBTI oder Insights Discovery gut finden, reagieren sie feindselig gegenüber Menschen, die ihr Glaubenssystem nicht unterstützen und bezeichnen sie gern als „wissenschaftliche Extremisten“. Dazu gehört auch unsere Vorliebe, Autoritäten zu glauben … Vermeren: Ja, das ist der vierte Punkt. Die Kombination aus unserer leichtgläubigen Natur – evolutionär machte es Sinn, dass die Kinder von Erwachsenen lernten, um zu überleben – und unsere Faulheit – wir wollen entsprechend dem Gesetz der Thermodynamik nicht unnötige Energie verschwenden – macht uns dafür sehr empfänglich. Denn das ist eben der einfa- che und energiesparende Weg. Wenn also jemand behauptet, ich bin Psychologe und haben viele Jahre dazu geforscht und veröffentlicht, neigen wir dazu, ihm zu glauben. Das haben Wissenschaftler wie der bekannte Psychologe und Bestseller- autor Robert Cialdini längst bewiesen. Und das wissen auch viele Hochstapler und Betrüger. Sie wissen, dass die meis- ten Menschen leichtgläubig sind. Aber das erklärt noch immer nicht, warum HR-Professionals oftmals an fragwürdigen Verfahren festhalten, obwohl längst bekannt ist, dass die Methoden nichts taugen. Warum igno- riert HR also wissentlich die Wissen- schaft und gibt den Unsinn nicht auf? Vermeren: Das ist eine Frage, die Philo- sophen und Psychologen schon lange be- schäftigt. Antworten darauf haben Wis- senschaftler wie Robert Cialdini, Anthony Pratkanis oder Jesse Bering gegeben. Pratkanis verweist auf die Rationalisie- rungsfalle. Sobald ein Verkäufer seinen Fuß in der Tür hat und uns zum Beispiel einen kostenlosen Test anbietet, sitzen wir in der Falle. Bietet er dann ein weite- res kostenpflichtiges Angebot an und wir nehmen es an, beginnen wir, an die The- orie oder das Modell zu glauben, weil wir konsistent bleiben wollen. Sobald diese kritisiert wird, kommt es zur kognitiven Dissonanz, die wir so schnell wie möglich wieder aufheben möchten und daher die Kritik schnell wegwischen. Die nächste psychologische Falle ist der Sunk Cost Bias. Das ist unsere Tendenz, eine Sache zu Ende zu bringen, weil wir dafür ja schon Geld und Zeit investiert haben. Das alles macht es fast unmög- lich, Menschen von etwas abzubringen, an das sie glauben. Das klingt alles nicht sehr ermutigend. Was erhoffen Sie sich durch Ihr Buch? Vermeren: Ich beabsichtige nicht, die un- erschütterlichen Anhänger zu überzeu- gen. Das sind diejenigen, die so tief von einem Mythos überzeugt sind, dass jeder Versuch, sie davon abzubringen, scheitert oder sogar ihren falschen Glauben daran noch verstärkt. Je emotionaler und ideo- logischer ihr Glaube ist, desto weniger wirkungsvoll sind meine Darstellungen. Das Buch richtet sich auch nicht an Men- schen mit geringen moralischen Ansprü- chen, die keine Reue spüren, wenn sie an- dere betrügen und in die Irre führen. Sie machen Geld damit und werden es nicht Autorenportät. Patrick Vermeren ist seit 2001 als Berater und Coach beim belgischen HR-Dienstleister „Perco“ tätig. Davor war er interner Trainer und Coach bei dem Bankkonzern Dexia in Brüssel und Verkaufstrainer in der Automobilindustrie. Vermeren schrieb mehrere Bücher auf Niederländisch, darunter (jeweils engli- sche Übersetzung) „The HR Balloon: 10 Popular Practices Punctured“ (2006), „Around Leadership. Bridging the scientist-practitioner gap“ (2009), „Leading differently“ (2009) und „Around communication. Man as a social animal (2013)“. Der 55-Jährige hat zwei Bachelor-Abschlüsse als Überset- zer und Dolmetscher sowie diverse Weiterbildungen in kog- nitiver Verhaltenstherapie, Coaching und Psychologie. Er hat wissenschaftliche Artikel (peer-reviewed) veröffentlicht wie “Integrating leadership: The leadership circumplex” im „European Journal of Work and Organizational Psychology“ (A1 publication – November 2012 online). Bekannt wurde er auch durch seinen Auftritt bei TEDx im März 2016 mit dem Titel „The (uncomfortable) truth of HR“. Wer ist Patrick Vermeren?
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