Wirtschaft und Weiterbildung 1/2020
training und coaching 42 wirtschaft + weiterbildung 01_2020 wird man wohl nie eine kritische wissen- schaftliche Evaluation über Dinge wie das Enneagramm oder das Coaching mit Pferden finden. Ich wollte daher ein Buch schreiben, in dem man das alles gebün- delt an einem Ort findet. Sie nennen Unsinn beim Namen. Wie haben Sie entschieden, was ein Mythos ist? Vermeren: Basierend auf dem Buch „Philosophy of Pseudoscience – Recon- sidering the Demarcation Problem“ von Massimo Pigliucci und Maarten Boudry habe ich die Theorien, Modelle und ihre Derivate wie Persönlichkeitsfragebogen anhand von zwei Kriterien bewertet: die theoretische Fundierung und die empi- rische Evidenz. Auf der einen Seite des Spektrums befinden sich schlechte The- orien, die zum Beispiel im Widerspruch zur Physik, Biologie oder Chemie stehen. Auf der anderen Seite stehen Theorien, für die es viele übereinstimmende Ergeb- nisse aus verschiedenen Forschungsbe- reichen gibt. Bei der Evidenz gibt es auf der einen Seite sorgfältig durchgeführte Reviews wie streng ausgeführte Metaana- lysen von mehreren Forschern. Auf der anderen Seite gibt es systematische Re- views, die eine Theorie widerlegt haben oder sie gilt sowieso als längst überholt. Jedes Modell und jede Theorie habe ich – so objektiv wie möglich – nach diesem theoretisch-empirischen Raster bewertet. Die entsprechende Grafik dazu findet man in jedem Kapitel. Manche Ergeb- nisse waren dabei echt überraschend für mich. Zum Beispiel, wie schlecht die Forschungslage bei der „Positiven Psy- chologie“ ist. Ich wusste nicht, dass es da einige Probleme gab und sogar Artikel zurückgezogen wurden. Daher habe ich die Positive Psychologie in die Sektion „halbwahr“ eingeordnet. Warum ist gerade HR so anfällig für Pseudowissenschaften? Vermeren: Da spielen sicher viele Fakto- ren eine Rolle. Für mich gibt es vier we- sentliche Punkte: Der erste ist ein Mangel an Wissen und Kompetenz. Viele HR- Mitarbeiter können nicht zwischen guter und schlechter Forschung unterscheiden oder beschäftigen sich überhaupt damit. Studien in Belgien und in den Niederlan- den haben gezeigt, dass HR Professionals nur sehr geringe Kenntnisse in Psycholo- gie haben. Bei einem Fragebogen zu wis- senschaftlichen Erkenntnissen konnten die meisten nicht einmal die Hälfte der Fragen richtig beantworten. Das fehlende Wissen betrifft sowohl externe Anbieter wie Berater, Trainer und Coachs als auch interne HR-Mitarbeiter und Manager. Das liegt natürlich auch daran, dass es in HR Mitarbeiter mit den unterschiedlichsten Ausbildungen gibt. Aber mangelndes Wissen allein ist doch keine ausreichende Erklärung ... Vermeren: Nein, dazu kommt, dass HR eine besondere Anziehungskraft für Was war Ihre Motivation, neben Ihrem Job als Berater und Coach Ihre Kritik an der mangelnden Professionalität der HR- Abteilungen in einem 1.100-Seiten-Buch zu veröffentlichen? Patrick Vermeren: Ich weiß natürlich seit Langem, wie viel Unsinn es im HR- Bereich gibt. Und ich habe den Eindruck, dass es immer schlimmer wird. Es ist wirklich unfassbar, wie immer wieder neue, pseudowissenschaftliche Modelle weltweit verbreitet und genutzt werden. In meinem Berufsleben habe ich immer wieder erlebt, welchen Schaden solche Methoden anrichten können. Menschen wurden wegen unseriöser Tests gefeu- ert. Sie bekamen wegen fragwürdiger Rekrutierungspraktiken keinen besser bezahlten Job, sie haben unter unsin- nigen Assessment-Centern gelitten und manche haben ihr Selbstvertrauen verlo- ren und sind sogar depressiv geworden. Der zweite Grund ist die enorme Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis. HR- Mitarbeiter wissen oft nicht, was die Wis- senschaft längst herausgefunden hat, weil das Wissen überall verstreut und oftmals nicht öffentlich zugänglich ist, sondern hinter einer Paywall steht. Zudem gibt es viele Modelle und Methoden, die niemals wissenschaftlich untersucht worden sind, weil Forscher sie für zu unsinnig halten, um damit ihre Zeit zu verschwenden. So Trainer und Berater als Wunderheiler? TRAINER/BERATER-MYTHEN. In seinem Buch „A Skeptic’s HR dictionary“ entlarvt der Belgier Patrick Vermeren auf mehr als tausend Seiten zahlreiche unwissenschaftliche oder gar esoterische Theorien und Tools, mit denen Trainer und Berater unbedarfte Personalentwickler für sich und ihre Quacksalberarbeit einnehmen. Er zeigt aber auch, dass sogenannte „evidenzbasierte“ Werkzeuge großen Nutzen stiften können. „Bis heute gibt es keine Evidenz dafür, dass Achtsamkeit bei gesunden Menschen im Arbeitskontext positive Auswirkungen hat.“
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