Wirtschaft und Weiterbildung 1/2020

aktuell 12 wirtschaft + weiterbildung 01_2020 Die Szene der „Speaker“ und der „Möchte-gern- Speaker“ hat eine neue Berufsbezeichnung für sich entdeckt: „Evangelist“. Fraglich ist nur, wer Evange- listen braucht. Die Szene der Speaker und Möchte- gern-Speaker, die wie Motten das Rampenlicht suchen (und oft nicht finden), ist eine illustre Gesell- schaft. Dies gilt insbesondere für die Fraktion, die sich in der Vergangenheit gerne mit solchen Selbst- attributionen wie „Querdenker“ und „Vordenker“ zierte, obwohl in der Regel niemand, der ihre Biogra- fie liest, nachvollziehen kann, aus welchen Quellen sich diese Kompetenz speisen soll. Just dieser Personenkreis hat nun anscheinend ein neues Selbstklebeetikett entdeckt, das er sich gerne auf die Marketingstirn klebt: Evangelist. Das heißt, diese (Möchte-gern-)Speaker geben sich nicht mehr damit zufrieden, „Quer- und Vordenker“ zu sein. Nein, sie verkünden uns oder den Entschei- dern in den Unternehmen nun auch „Heilslehren“. Und wie in den biblischen Evangelien ist damit stets die Botschaft verknüpft: „Kehret um, tuet Buße, folgt mir, dem Messias, nach. Dann werdet Ihr erlöst.“ Oder anders formuliert: „Liebe Zuhörer, Ihr erbärmliches Gewürm, Ihr habt bisher alles falsch gemacht. Ihr oder Eure Organisation muss sich grundlegend ändern. Insbesondere Euer Mindset muss sich radikal wandeln. Geschieht dies, dann bleiben Euch nicht nur viele Höllenqualen erspart, dann werdet Ihr erlöst und kommt vielleicht sogar ins Paradies.“ Googelt man das Wort „Evangelist“ oder gibt man bei Linkedin die Begriffskombi „Redner Evangelist“ als Suchbegriff ein, dann zeigt sich rasch: Das Allheilmittel, das zur dieser Erlösung führt, sind nicht Gebete: Es ist die Agilität. Agilität ist der Zau- berschlüssel zum Himmelreich der „disruptiven Veränderung“, „digitalen Transformation“ und „radikalen Innovation“ und zum Erreichen des „Next Level“ in allen Lebenslagen – und zwar unabhängig davon, ob eine Person als Reinigungskraft oder Pro- duktentwickler, Vertriebler oder Controller ihr Geld verdient oder ob ein Unternehmen in einer automa- tisierten Produktion Badeschlappen produziert oder komplexe Problemlösungen für Kunden entwirft. Agilität tut funktions-, bereichs- und branchen­ übergreifend immer gut, glaubt man zumindest den selbst ernannten Evangelisten. Mich nerven diese Typen, die voller Inbrunst ihre Heilsbotschaften verkünden, dabei jedoch null Kompetenz im „Durch- denken“ sowie im Differenzieren zeigen und letzt- lich die Komplexität negieren. Sie nerven vermutlich auch, weil ich bezogen auf viele (Schicksals-)Fragen, vor denen unsere Wirtschaft steht, schlichtweg keine Antwort oder eine Problemlösung weiß – zumindest keine, die sich in einem Wort zusammen- fassen ließe. Eines weiß ich jedoch: Viel selbst ernannte Evangelisten haben nicht kapiert, dass es lerntheoretisch völlig kontraproduktiv ist, zu Menschen oder Mitarbeitern von Unter- nehmen zu sagen: „Ihr habt bisher alles falsch gemacht. Alles muss sich ab sofort ändern.“ Denn dies erzeugt automatisch Widerstand. Eine solche Aussage negiert nicht nur die bisherige (Lebens-)Leistung der Adressaten. Sie ist auch kein Ausdruck von Wertschätzung, denn dahinter versteckt sich letztlich die Botschaft: „Ihr seid – im Gegensatz zu mir, dem Erleuchteten – alle kleine Lichter – zumindest habt Ihr Euch in der Vergangen- heit so verhalten.“ Agilität ist der Zauberschlüssel zum Erreichen des ‚Next Level‘ in allen Lebenslagen. „ „ Bernhard Kuntz Gastkommentar Wer braucht eigentlich Evangelisten? Bernhard Kuntz ist der Gründer und Inhaber der Agentur „Die Profilberater GmbH“, Darmstadt, die Bildungs- und Beratungsanbieter beim (Online-)Marketing unter- stützt. Er ist Autor unter anderem der Bücher „Die Katze im Sack verkaufen“, „Fette Beute für Trainer und Berater“ und „Warum kennt den jeder?“. www.die-profilberater.de

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