Wirtschaft und Weiterbildung 2/2020

wirtschaft + weiterbildung 02_2020 27 schwinden. Ein erster wichtiger Schritt dafür ist eine intensivere Reflexion der bisherigen Spannungserfahrungen im Führungsteam, die bisher häufig – wie in dem von uns untersuchten Fall auch – vor allem als individuelle, persönliche Führungsherausforderungen thematisiert werden. Zielführender wäre es, sie neben der per­ sönlichen Auseinandersetzung kollek­ tiv zu bearbeiten: Wie gestalten wir das Zusammenspiel und die Widersprüche beider Organisationslogiken? Dabei stel­ len sich bei näherer Betrachtung folgende Fragen: 1. Was sind geeignete Modi für die Koexistenz? Zum einen stellt sich die Frage, wie der Modus der Koexistenz beider, eher wi­ dersprüchlich aufgestellten Organisati­ onslogiken aussehen kann. Dazu können zum Beispiel bisherige Erfahrungen der Passung und Nicht-Passung ausgewertet werden. Für welche Form und Reifegrad von Herausforderungen eignet sich wel­ che Organisationslogik? Wo erweist sich die Hierarchie weiter als funktional und wo braucht es neuere Ansätze, die eine Abstimmung zwischen Team und Netz­ werkpartnern schneller, effizienter und näher an den Kundenbedürfnissen orga­ nisieren? Spannend ist hier vor allem zu diskutie­ ren, wie die Schnittstellen gestaltet wer­ den können, an denen beide Logiken aufeinandertreffen. In der Softwareent­ wicklung verläuft eine kritische Schnitt­ stelle zum Beispiel zwischen agiler Softwareentwicklung und „klassischer“ Budgetplanung. Wie können diese Wider­ sprüche gezielt bearbeitet werden? 2. Wie entscheiden wir uns für die geeignete Form des Organisierens? Wenn beide Formen des Organisierens je nach Situation und Erfordernissen sinnvoll sein können, stellt sich auch die Frage, wie umgeschaltet werden kann: Plötzlich ist die Form des Organisierens kein Selbstläufer mehr, sondern man hat Optionen: Wann ist die eine oder die andere Form sinnvoller und wie und wann wird entschieden, ob man mehr im Modus der „Festlegung“ oder der „inne­ ren Leere“ arbeiten wird? 3. Welche Kompetenzen brauchen Mitarbeiter und Führungskräfte? Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, welche Kompetenzen Mitarbeiter und Führungskräfte benötigen, um sich in den zwei sehr unterschiedlichen Erwar­ tungsstrukturen von „tell and do“ und „enable and speak up“ zurechtzufinden: Wie kann markiert werden, wann wir in welchem Modus sind? Welches Verhalten ist dann erforderlich? Interessant sind hier zum Beispiel langjährige Erkennt­ nisse von Organisationen im Hochrisiko­ bereich, deren zentrale Herausforderung ist, Mitarbeitende einerseits zur kompro­ misslosen Einhaltung von festgelegten Regeln und Standards zu erziehen und sie andererseits aufzufordern, in uner­ warteten Situationen die Hierarchie auf den Kopf zu stellen und erfindungsreich und gemeinsam Probleme zu lösen. Fort­ währendes Training und Erfahrungsrefle­ xion sind hier wichtige Hebel (Buchtipp: A. Gebauer: „Kollektive Achtsamkeit organisieren. Strategien und Werkzeuge für eine proaktive Risikokultur“, Schäffer- Poeschel, Stuttgart 2017). 4. Wie schaffen wir als Organisation Verlässlichkeit? Die Koexistenz der Organisationslogiken wirft auch die Frage auf, wie Mitarbeiter sich darauf verlassen können, dass in be­ stimmten Situationen selbstorganisiertes Arbeiten und eine radikale Orientierung am Auftrag ohne Einschränkungen auch wirklich erlaubt ist. Wie kann dem Ri­ siko, in alte Muster zurückzufallen, wenn es brenzlig wird, entgegengewirkt wer­ den? 5. Wie behalten wir Spannungsfelder im Blick, um davon zu lernen? Die neuen Spannungsfelder stellen Führungsteams vor neue Fragen und es braucht Zeit und Raum, um diese in wiederkehrenden Zyklen zu reflektieren. Das sind zum Beispiel Fragen der Budget- und Finanzplanung: Wie kalkulieren wir Budgets in agilen Prozessen, wenn sich die Kriterien und Ziele im Verlauf ändern können? Wie planen wir rare Ressour­ cen? Wieviel Steuerung ist nötig, wieviel Entscheidungsspielraum können wir ga­ rantieren? Wie kann das Nebeneinander von Hierarchie und das Führen von agilen Teams und Rollen aussehen, sodass beide Formen sich nicht blockieren, sondern befeuern? 6. Wie fördern wir eine nachhaltige Veränderung? Die Aussichten sind gering, dass kom­ plexe Fragestellungen im Modus einer Managementmode (also das Alte schlechtzumachen, um das Neue im hel­ len Licht erscheinen zu lassen), bewältigt werden können. Vielmehr sollte es darum gehen, die Vorteile beider Formen des Or­ ganisierens herauszustellen und sich den Spannungsfeldern zu widmen, die sich durch eine Koexistenz ergeben. So kön­ nen die Widersprüche zwischen den at­ traktiven Ideen und den Widerständen in der Umsetzung bearbeitet werden. Dies ist umso wichtiger, da die ersten Versuche mit dem agilen Organisieren in den letz­ ten Jahren unter wirtschaftlich stabilen Bedingungen stattfanden. Die Automobilbranche etwa erwirtschaf­ tete noch satte Gewinne aus den alten Geschäftsmodellen und es war für das Management einfach, in etwas Neues zu investieren. Nun hat sich der Wind ge­ dreht. Wie immer in Zeiten aufziehender Krisen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, einen Reflex zurück zum Altbekannten zuzulassen. Umso wichtiger, sich gut zu überlegen, wie man unter diesen er­ schwerten Bedingungen am Ball bleiben kann. Eine erste Rekonstruktion der Ein­ führungserfahrungen und eine fundierte Analyse von Spannungsfeldern ist dafür ein erster wichtiger Schritt. Annette Gebauer Simon Weber Dieser Artikel ist im Rahmen des For­ schungsprojekts „New Organizing“ der Beratungsgesellschaft Simon, Weber and Friends (www.simon-weber.de) en tstan­ den. Mithilfe von 14 Fallstudien wird die Implementierung neuer Organisationsan­ sätze in der Praxis untersucht. Ein Sam­ melband mit den Forschungsergebnissen soll im Carl Auer Verlag, Heidelberg, Ende 2020 veröffentlicht werden. Mit der Veranstaltung „New Organising Review“ bieten Annette Gebauer und Simon Weber ein Workshop-Format für Unternehmen, um ihre eigene Einfüh­ rungsstrategie und die Spannungsfelder beim Thema „Agilität“ zu untersuchen.

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