Wirtschaft und Weiterbildung 2/2020

R wirtschaft + weiterbildung 02_2020 25 tionen in die Kommunikation einzuspei­ sen. „Unser Chef bleibt noch unser Chef, aber auch wir bekommen viel mehr Frei­ raum, sodass wir uns probieren können“, berichtet ein Meister aus der Produktion. Die rahmengebenden organisationalen Entscheidungsroutinen bleiben unange­ tastet. Im Team aber soll durch geschickte Interaktionsgestaltung ein hierarchie­ freier Raum entstehen, um die negativen Effekte von Hierarchie auszugleichen. In der konkreten Interaktion sollen andere Spielregeln gelten, als formal vorgesehen. Die Führungskraft als Hoffnungsträger Führungskräfte und ihr persönliches Ver­ halten werden in diesem „Spiel mit zwei Logiken“ als kritischer Erfolgsfaktor gese­ hen. In der Interaktion sollen Führungs­ kräfte sich mehr auf die Kontextsteuerung beschränken: „Das ist ein Paradigmen­ wechsel“, sagt ein IT-Leiter. „Ich erkläre heute eher das Warum, gebe dann auch noch ein Stück weit das Was vor und kümmere mich dann um die Gestaltung der Rahmenbedingungen.“ Durch ihr per­ sönliches Verhalten sollen Führungskräfte das spannungsreiche Nebeneinander von formal-hierarchischen Entscheidungs­ wegen und Erwartungen an das selbstor­ ganisierte Arbeiten im Team ausgleichen und beide Logiken balancieren. Mit Blick auf die Einführungsstrategie ist darüber hinaus der Marketing- be­ ziehungsweise schauseitengetriebene Ansatz zu erwähnen, mit der die Einfüh­ rung begleitet wird: „Für mich war das eine gigantische Marketing-Kampagne“, scherzt eine Führungskraft. Die alte (hie­ rarchische) Vorgehensweise wird negativ beleuchtet, sodass die neue Idee von Agi­ lität positiver strahlen kann und muss. Grauzonen haben bei dieser auf Eindeu­ tigkeit getrimmten Neuheitsrhetorik keine Chance. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Einführung agiler Arbeits­ formen und der neuen Führungsstrate­ gie von externen Beratungen mit einer starken Marketingorientierung begleitet wird. So werden große Managementkon­ ferenzen mit Erlebnischarakter inszeniert. Führungskräfte erhalten Sneaker und T- Shirts, um den individuellen Transforma­ tionsprozess auch symbolisch erlebbar zu machen. In den Gängen der Büroflure hängen bunt gestaltete Poster mit Sprü­ chen, wie man sie auch bei jungen Start- ups oder Facebook finden würde. Aus der Außenperspektive von systemi­ schen Beratern kann das Festhalten an der formalen Hierarchie und der Versuch, Veränderungen eher im Informalen und auf Interaktionsebene im Team herbeizu­ führen wie ein Sicherungsanker interpre­ tiert werden. Für den Fall, dass die neuen Formen des Organisierens versagen, kann man auf altbewährte Bewältigungsmuster zurückgreifen. Man probiert sich mit dem agilen Organisieren erstmal inoffiziell aus. Aber so geschickt diese Strategie vor­ dergründig erscheint, so zwangsläufig er­ zeugt sie auch Unsicherheiten bei den Be­ teiligten, die bearbeitet werden müssen. Das Nebeneinander von formalen, hierar­ chischen Entscheidungsroutinen und die Erwartungen an selbstgesteuerte, hierar­ chiefreie Zusammenarbeit im Team for­ dert Führungskräfte in ungewohnter Art und Weise und überfordert sie oft auch. Als Einzelpersonen haben Führungskräfte Schwierigkeiten, eingespielte kollektive Führungsmuster zwischen Führungskräf­ ten und Mitarbeitern zu verändern: „Ich möchte ja empowern, aber die Mitarbei­ ter lassen sich nicht empowern. Die ältere Fraktion belächelt das“, klagt ein interner Agilitäts-Coach. Die Folgen der Einführungsstrategie Die hierarchische Struktur und dazu pas­ sende Verhaltensmuster werden durch einige Führungskräfte auch verteidigt, um bisherige Einflussmöglichkeiten zu bewahren: „Die Angst, die Kontrolle und den Einfluss zu verlieren, war zu stark. Diejenigen sehen dann ihre Perspektive, ihre Macht, ihren Einfluss nicht mehr und hauen dann ihre Pflöcke rein und rühren sie nicht an. So bleibt letztlich alles beim Alten“, berichtet der interne Agilitäts- Coach weiter. Das Ergebnis ist ein noch sehr hetero­ genes Bild: Der eine ist weiter als der andere. Es gibt Inseln. Gerade wenn es stressig wird, gibt es Tendenzen, in die altbewährten, hierarchischen Bewälti­ gungsmuster zurückzufallen: Nachdem in einem Fall ein Team sechs Monate in Sprints agil eine Lösung für eine Neu­ organisation der eigenen Einheit entwi­ ckelt hatte, reißt der Leitungskreis die Steuerung des Projekts an sich, weil die Lösungsvorschläge nicht seinen Vorstel­ lungen entsprechen. Die Neuorganisation wird wieder zur Chefsache gemacht – das heißt, die Chef-Ebene erarbeitet eine Lö­ sung und verkündet sie. Während sich bisher alles an der Hierar­ chie (also der Oben-Unten-Logik) orien­ tierte, verschwimmt diese Zuordnung, wenn agil gearbeitet wird. „Ich habe im Jahr 1993 in der Produktion angefangen. Da war der Meister eigentlich der liebe Dr. Annette Gebauer ist seit 2003 selbst- ständige Organisa- tionsberaterin mit den Beratungsschwerpunkten Corpo- rate Learning, High Reliability Organi- zing sowie Management- und Kultur- entwicklung. Sie promovierte in Witten/ Herdecke und gründete die ICL GmbH. Interventions for Corporate Learning (ICL) GmbH, Choriner Straße 58, 10435 Berlin Tel. 030 12091206 www.icl.berlin AUTOREN Simon Weber ist Organisations- psychologe, sys- temischer Berater und Facilitator bei der Beratungsgesellschaft Ute Clement Consulting in Berlin. Als Organisations- berater begleitet er Veränderungs- und Transformationsprozesse in Organisa- tionen. Er forscht und publiziert zum Zusammenspiel von neueren und tra- dierten Organisationsansätzen. Ute Clement Consulting GmbH Husemannstraße 8, 10435 Berlin www.uteclementconsulting.de

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