Wirtschaft und Weiterbildung 2/2020
personal- und organisationsentwicklung 24 wirtschaft + weiterbildung 02_2020 Regeln, Anweisungen und Standards her vor, die sie der Außenwelt (den Kunden) als Wissen entgegensetzten. Wenn sie agiler werden wollen, müssen sie dem Organisationssoziologen Dirk Baecker zufolge der Außenwelt eine möglichst große innere Leere entgegenbringen, um Kunden, Märkten, Technologien irritati onsbereit begegnen zu können. Wie also kann dieser Wechsel von der bisherigen Logik eines „Supersystems“ hin zur „in neren Leere“ gelingen? Und was passiert, wenn beide Formen des Organisierens in der Praxis aufeinandertreffen und neben einander existieren? Einige erste Erkennt nisse über typische Einführungsstrategien und -erfahrungen in Großorganisationen skizzieren wir hier am Beispiel der Ein führungserfahrungen eines Konzerns aus der Automobilbranche. Umbruch in der Automobilbranche Unsere Beispielfirma, die hier anonym bleiben soll, ist mit starken Veränderun gen im Markt konfrontiert. Die techno logischen Veränderungen am Markt (die dazu gehörigen Stichworte lauten: Ver netzung, autonomes Fahren, Carsharing, E-Mobilität) zwingen das Unternehmen, völlig neue Geschäftsmodelle hervorzu bringen, wenn es gegen die neuen Mit bewerber aus dem Technologiesektor nicht untergehen will. Die neue Strate gie lautet: Früher haben wir Automobile hergestellt und verkauft, künftig sind wir Mobilitätsdienstleister. Meinte man zuvor die Lösung für den Kunden beziehungs weise den Markt parat zu haben, so gilt es nun, den eigenen Auftrag im Markt neu zu erfinden. Gleichzeitig – und darin besteht die zentrale Herausforderung des Unternehmens – wird der Hauptumsatz nach wie vor durch das bestehende Ge schäftsmodell generiert – der Produktion und dem Verkauf von fossilbetriebenen Automobilen. Wie so oft beginnt man mit vereinzelten Versuchen, sich dem agilen Organisieren zu nähern. Frontrunner ist der IT-Bereich. Die ersten Grassroot-Bewegungen bekom men wenig später Unterstützung von der Spitze. Getrieben von den neuen Markt entwicklungen unternimmt der gesamte Vorstand im Jahr 2015 – ebenso wie viele andere Vorstandsteams großer Unterneh men – eine Lernreise durch das Silicon Valley. Man möchte sich mit den Trends der Digitalisierung auseinandersetzen. Die Männerrunde kommt begeistert zu rück. Im Nachhinein wird dies als der „Tipping Point“ erinnert: Man hat im „Valley“ eine ganze Woche Start-ups besucht und sich gefragt: Wie arbeiten eigentlich kleine, schnelle, wendige, er folgreiche Firmen? Und wie sind sie in der Lage, auf Neues, neue Rahmenbedin gungen und neue Trends zu reagieren? Man kam mit völlig neuen Erkenntnis sen zurück und gibt grünes Licht für den Ausbau des projektförmigen, agilen Ar beitens. Fast ein Viertel der Belegschaft soll künftig agil und selbstgesteuert ar beiten, um zukunftsträchtige Ideen und Geschäftsmodelle auszuarbeiten. Zudem fällt die Entscheidung für eine neue Füh rungsstrategie, die ebenfalls durch agile Teams ausgearbeitet und vorangetrieben werden soll. Durch den Rückenwind vom Topmanagement erfahren die vorherigen Experimente Auftrieb. Agile Teamarbeit – ohne die Hierarchie abzuschaffen Es fällt auf, dass der Fokus bei der Ver änderung zunächst vor allem auf die Ar beitsstile bei der Projektarbeit im Team gelegt wird. Neue Arbeitsmethoden wie Design Thinking oder Scrum werden als Alternative zum strikt aufgabengesteuer ten Arbeiten erprobt. Projektarbeit ist im Unternehmen nicht neu, sie wird bereits seit Jahren praktiziert. Neu ist aber die Idee der Selbststeuerung, also das Nicht eingreifen von Führung auf die inhaltliche Richtung und Richtigkeit der Ergebnisse sowie das bewusste Zulassen von Pers pektivenvielfalt, die durch gezielte Schu lungen und agile Coachs unterstützt wird. Strukturelle Veränderungen werden zwar diskutiert, dann aber bewusst ausgespart: „Ursprünglich gab es die Idee, dass man die agilen Teams wirklich aus der Orga nisation rausnimmt. Das hat man dann aber nicht realisiert. Der Vorstand wollte keine Nebenorganisation aufmachen, die Führung neu definiert“, berichtet ein Mit arbeiter aus der HR-Abteilung. So bleibt die formale, hierarchische Or ganisation weiter parallel bestehen. „Wir sind immer noch ein sehr hierarchisches Unternehmen“, so der HRler. Da die Hi erarchie unangetastet bleibt, soll Agilität vor allem durch eine Veränderung des informellen, sozialen Miteinanders im Team entstehen. Bevor es ans Inhaltli che geht, macht man vor jedem Meeting „Warm-ups“ oder führt das „Workshop- Du“ ein. Ein verbessertes Klima im Team soll offenbar die formal weiterbestehen den hierarchischen Unterschiede nivel lieren. In der direkten Interaktion wird es Teammitgliedern „erlaubt“, Wahrneh mungen und beobachtete Handlungsop R Beispiel. Unser Fallbeispiel zeigt die Erfahrungen der Autobranche mit der Agilität.
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