Wirtschaft + Weiterbildung 6/2020
personal- und organisationsentwicklung 34 wirtschaft + weiterbildung 06_2020 solcher Rohstoffe wie der „seltenen Erden“ kollabiert. Deshalb können sehr viele Trends aus der Vor-Krisen-Zeit nicht fortgeschrieben werden. Und das Daten- material ist über Nacht veraltet. Dessen ungeachtet ist und bleibt es ein zentrales Element der Szenarioentwicklung, die unterschiedlichen Entwicklungsmöglich- keiten zumindest der wichtigsten Ein- flussfaktoren ein- und abzuschätzen. So stellen sich zum Beispiel aktuell einem Lebensmittelhersteller mittelfristig die Fragen: • Wie wirkt sich die Corona-Krise und die sich abzeichnende Dürre im Som- mer in vielen Weltregionen auf die Ernte von Getreide usw. im Herbst aus? • Wird eine weltweite Lebensmittel- knappheit entstehen, die unsere Be- schaffungs- und Produktionskosten in die Höhe treibt? • Wie wirken sich die erhöhten Preise auf das Nachfrageverhalten in unseren Zielmärkten aus? Und langfristig? • Welche Stadt-Land-Verschiebungen wird es in unseren wichtigsten Beschaf- fungs- und Absatzmärkten im Gefolge der Krise geben? • Werden die Handelsketten eine noch größere Einkaufsmacht erlangen? • Werden Staaten die industrielle Land- wirtschaft verstärkt fördern und ihre Ausfuhrbestimmungen verschärfen? • Wird der Bio-Trend und Trend zum Urban Gardening in den Industrie nationen einen weiteren Push erfahren? Solche Einflussfaktoren nebst ihren mög- lichen unterschiedlichen Ausprägungen und Wechselwirkungen gilt es bei der Szenarioentwicklung zu bedenken. Ent- sprechend viele Szenarien sind aktuell möglich. Von diesen lassen sich in der Regel jedoch viele aufgrund ihrer Ähn- lichkeit in Clustern zusammenfassen. Dies ist auch sinnvoll, um ein effektives Weiterarbeiten zu ermöglichen. In der Praxis empfiehlt es sich, die Szenarien auf maximal ein halbes Dutzend zu be- grenzen: die beiden Extremszenarien (Best und Worst Case), das Trendszenario und eventuell ein, zwei ausgewählte al- ternative Szenarien. Das Ergebnis dieser Phase ist eine Übersicht über die mögli- che Ausprägung der verschiedenen Ein- flussfaktoren und eine handhabbare Zahl von Szenarien, mit denen weiter gearbei- tet wird. Diese empfiehlt es sich, narrativ zu beschreiben, damit sie leichter kom- munizierbar sind. Schritt 4: Bewerten und Interpretieren der Szenarien Die ausgewählten Szenarien werden wei- ter untersucht. Sie werden einander mit ihren geschätzten Eintrittswahrschein- lichkeiten sowie den mit ihnen verbun- denen Chancen und Risiken gegenüber- gestellt. Hierauf aufbauend können die Unternehmen dann ermitteln, • welche strategischen Optionen und Handlungsoptionen sie haben und • an welchen Punkten ihre aktuelle Stra- tegie geändert werden muss. Die strategischen Optionen und Hand- lungsoptionen sind jedoch so lange nur theoretische, wie nicht der Gegencheck erfolgte, welche von ihnen für das Un- ternehmen überhaupt realisierbar sind – zum Beispiel aufgrund seiner Marktpo- sition und -macht, seiner (finanziellen) Ressourcen, seiner Kompetenz. Hierauf aufbauend können dann Maßnahmen definiert werden, um sich für die realisti- schen Szenarien zu wappnen. Das Ergeb- nis dieser Phase ist eine Gegenüberstel- lung der verschiedenen Szenarien nebst den Annahmen, die ihnen zugrunde lie- gen, sowie der hieraus abgeleiteten stra- tegischen Handlungsoptionen. Schritt 5: Sich auf eine (vorläufige) Strategie verständigen Ist dies geschehen, erfolgt noch mal ein Gegencheck: Sind die in Schritt 1 defi- nierten Ziele überhaupt realistisch? Wenn nein, müssen diese modifiziert werden. Danach verständigen sich die Entschei- der auf eine (vorläufige) Strategie, die das Unternehmen künftig verfolgt, um seine Ziele zu erreichen. Dieser Mei- nungsbildungs- und Entscheidungspro- zess verläuft oft nicht konfliktfrei, denn: Aufgrund ihrer beruflichen Biografie und Funktion in der Organisation schätzen die Teilnehmer die Ist-Situation, die aus der Krise resultierenden Risiken und Chancen und somit auch die Handlungsmöglich- keiten verschieden ein. Zudem sind mit der strategischen Neupositionierung oft harte Entscheidungen verknüpft wie: Wir stellen bestimmte Geschäftsfelder oder Produktlinien ein. Oder wir verfolgen gewisse Projekte nicht mehr. Oder wir entlassen Mitarbeiter. Deshalb gibt es in diesem Prozess nicht selten Topentschei- der (und Bereiche), die sich zumindest als Verlierer empfinden, weshalb die Un- ternehmen anschließend nicht selten ver- künden: „Vorstandsmitglied x hat wegen strategischer Differenzen das Unterneh- men verlassen.“ Auch deshalb empfiehlt es sich, den Prozess der Strategieentwick- lung durch einen neutralen, externen Mo- derator moderieren zu lassen, der kontro- verse Diskussionen zwar nicht unterbin- det, aber in eine zielführende Richtung lenkt – speziell dann, wenn auch harte Entscheidungen auf der Agenda stehen. Das Ergebnis dieser Phase ist eine Ver- ständigung auf eine (vorläufige) Strategie im Wissen darum, auf welchen Annah- men sie basiert. Schritt 6: Sich auf einen Plan B und Controllingmaßnahmen verständigen Erleichtert wird das strategische Neustel- len der Weichen aktuell dadurch, dass die momentane Schieflage vieler Unterneh- men nicht auf Managementfehler zurück- zuführen ist. Dies reduziert die Gefahr, dass die Entscheider sich in wechsel seitigen Schuldzuweisungen verstricken. Hinzu kommt die Tatsache, dass die be- schlossene Strategie nur eine aufgrund des aktuellen Wissens- und Kenntnis- stands entwickelte vorläufige sein kann. Dieses Bewusstsein gilt es den Beteiligten immer wieder zu vermitteln. Hieraus resultiert jedoch auch die Auf- gabe, sich zumindest grob auf einen Plan B zu verständigen für den Fall, dass alles oder zumindest vieles anders kommt als gedacht. Zudem ist mit dem Verabschie- den (sich committen) auf eine neue Stra- tegie unlösbar die Aufgabe verknüpft, sich auf Controlling- beziehungsweise Monitoringmaßnahmen zu verständi- gen, inwieweit sich die ihr zugrunde lie- genden Annahmen im Zeitenverlauf als zutreffend erweisen. Zudem gilt es einen Fahr- und Zeitplan zu definieren, wann und wie die Entscheider überprüfen, ob das Unternehmen mit der vereinbarten Strategie seine Ziele erreicht oder ob eine Modifikation der Strategie und des Maß- nahmenplans nötig ist. Dr. Georg Kraus R
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==