Wirtschaft + Weiterbildung 6/2020
personal- und organisationsentwicklung 32 wirtschaft + weiterbildung 06_2020 tieren. So ist zum Beispiel zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar: • Wie wirkt sich die Krise auf die Staa- tengemeinschaft aus? Wird sie zum Beispiel die EU zusammenschweißen oder bleibt diese nur noch auf dem Pa- pier bestehen? • Wie wirkt sich die Krise auf die Natio- nalökonomien aus? Enthalten sie nach der Krise mehr planwirtschaftliche Elemente und erhöhen die Staaten die Handelsbarrieren? • Entwickeln sich noch mehr Schwellen- und Entwicklungsländer zu „Failed Sta- tes“ und brechen die Lieferketten für bestimmte Rohstoffe nachhaltig zusam- men? • Löst die Krise in vielen Branchen einen Übernahme- und Konzentrationspro- zess aus? • Wie stark und in welcher Form wird die Krise die digitale Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft und den Onlinehandel pushen? Ähnliche Fragen stellen sich auf der mikroökonomischen Ebene: • Werden die Mitarbeiter, die zurzeit im Homeoffice arbeiten, nach der Krise noch akzeptieren, dass sie fortan wie- der täglich im Büro sein müssen? • Verändert die Tatsache, dass in der Krise und der folgenden Wiederauf- bauphase sehr viele Entscheidungen top-down getroffen werden müssen, nachhaltig die Unternehmenskulturen? • Wie entwickelt sich die Kauflaune und die Investitionsbereitschaft sowie Zah- lungsmoral der Kunden nach der Krise, wenn ihre Kassen vermutlich weitge- hend leer sind? Fragen über Fragen, auf die man eigent- lich eine Antwort bräuchte, wenn man eine Strategie für die Zeit nach der Krise entwerfen möchte. Doch anders als bei der Strategieentwicklung in normalen Zeiten können sich die Unternehmens- führer aktuell bei ihrer Meinungsbil- dung und Entscheidungsfindung auf sehr wenige belastbare Daten, die ihnen zum Beispiel ihr Controlling liefert, und nachhaltige Trends, die ihnen die Markt- forschungsunternehmen prognostizieren, stützen. Sie können letztlich nur Hypothesen for- mulieren und hierauf aufbauende Szena- rien entwerfen. Dies tun die Entscheider in den Unternehmen auch, denn es ist und bleibt ihre Aufgabe, in ihren Orga- nisationen die Weichen jetzt für die Zeit nach der Krise in Richtung Erfolg zu stel- len. Hierbei können sie, um zwei Termini aus dem agilen Projektmanagement zu gebrauchen, letztlich nur iterativ und in- krementell agieren. Das heißt, sie können aufgrund ihres je- weils aktuellen Wissensstands stets nur vorläufige Strategien und hierauf aufbau- ende Maßnahmenpläne entwickeln, um dann regelmäßig zu überprüfen: Waren die Annahmen, die ihnen zugrunde lagen, richtig oder müssen wir unsere Strategie modifizieren? Vom Best Case/Worst Case zum „Trend Case“ Beim Entwickeln der Strategie gehen die Entscheider in der Wirtschaft ähnlich wie die Politik vor: Sie entwerfen aufgrund der validen sowie als weitgehend gesi- chert geltenden Daten und Annahmen, wie sich die Zukunft gestalten könnte, unterschiedliche Szenarien, also Zu- kunftsbilder. Hierzu zählt der sogenannte „Worst Case“ – also das Zukunftsbild, das entsteht, wenn aus Sicht des Unterneh- mens alles negativ läuft. Annahmen, die dem Worst Case eines Unternehmens ak- tuell zugrunde liegen können, sind: • Die Corona-Krise wird über viele Jahre das gesellschaftliche und wirtschaftli- che Leben bestimmen, weil es mutiert und kein Impfstoff hiergegen gefunden wird. • Ein großer Teil unserer (Ziel-)Kunden und viele Staaten werden zahlungs unfähig und entsprechend gering wer- den ihre Investitionsfähigkeit und -be- reitschaft sein. • Unsere Lieferketten für die Rohstoffe oder Teile x und y brechen nachhaltig zusammen und entsprechend einge- schränkt ist unsere Produktionsfähig- keit. Sozusagen das positive Gegenbild zum „Worst case“ ist der „Best Case“. Er be- schreibt das Zukunftsbild, wenn aus Un- ternehmenssicht alles optimal verläuft. Annahmen, die dem Best Case zugrunde liegen, können sein: • Es gelingt bis Frühjahr 2021, einen Impfstoff zu entwickeln und in großen Mengen industriell zu fertigen. Deshalb ist der „Corona-Spuk“ spätestens dann für uns vorbei. • Die Kaufkraft unserer Zielkunden wird durch die Krise nicht sinken und ihre Nachfrage nach unseren Produkten wird steigen. Zudem werden die För- derprogramme vieler Staaten unseren Absatz pushen. • Die Preise für die von uns benötigten Rohstoffe oder Teile werden nachhaltig sinken. Deshalb können wir günstiger produzieren. Das Entwickeln der beiden Szenarien dient auch dazu, den Horizont der Ent- scheider („Was könnten mögliche Kon- sequenzen der Corona-Pandemie sein?“ und „Welche Einflussfaktoren gilt es zu beachten?“) zu erweitern. Hierauf auf- bauend tasten die Entscheider sich dann an die Entwicklung des sogenannten „Trend Case“ heran, der beschreibt, was aus Unternehmenssicht das realistischste Szenario, also Zukunftsbild, ist, das der weiteren Strategie- und Maßnahmenpla- nung des Unternehmens zugrunde gelegt werden sollte. Bei der Szenario- und Strategieentwick- lung haben die Entscheider jedoch ein Problem. Normalerweise gilt hierbei die Faustregel: Je länger der gültige Zeitraum für die entwickelte Strategie ist, umso unwahrscheinlicher wird es im Zeitver- lauf, dass die Rahmenbedingungen, die der Entwicklung der Szenarien zugrunde gelegt wurden, noch gelten und die pro- gnostizierten Trends noch anhalten. Das heißt, während die eher kurzfristigen Sze- narien noch mit einer hohen Wahrschein- lichkeit die Realität abbilden, steigt mit zunehmender Dauer die Wahrscheinlich- keit einer Abweichung. Der sogenannte Szenariotrichter öffnet sich jetzt immer weiter. Anders ist dies in der aktuellen Krisen situation. In ihr ist die Trichteröffnung zum Zeitpunkt der Szenarioerstellung und hierauf aufbauenden Strategieent- wicklung nicht sehr klein, sondern groß, und die Annahmen, die den Entschei- dungen zugrunde liegen, sind hochspe- kulativ. Letztlich leben zurzeit alle Ent- scheider in die Hoffnung, dass sich in den kommenden Monaten der „Möglichkeits- raum“ verkleinert und sich die Fragen „Wie geht es weiter?“ und „Auf welche R
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