Wirtschaft und Weiterbildung 10/2020
wirtschaft + weiterbildung 10_2020 21 Fähigkeit, schnell Sinn aus einer Situation zu machen: In regelmäßigen Abständen versammelte sich das Team und eruierte anhand von kleinen simulierten Ereignis- sen die wichtigen Sinnstiftungsprozesse: • Wie interpretieren wir diese Hinweise? Welche Daten müssen wir hinzuziehen, um die Situation besser zu verstehen? • Wer weiß, wo was steht, wer was weiß? • Wie kommen wir zu einer Entschei- dung? In den meisten großen Organisationen gibt es zwar in der Regel Notfall- und Kri- senpläne. Sie müssen jedoch in der Praxis kollektiv geübt werden und nicht wie so oft nur auf dem Papier gepflegt werden. Ohne sicher zu sein, was wann wie auf- treten wird – Organisationen müssen sich auf ein höheres Maß an unerwarteten Er- eignissen vorbereiten. Die aufmerksame, systematische und respektvolle Reflexion der eigenen Erfahrungen im Umgang mit der Krise sind ein wertvoller Schlüs- sel und erster Schritt, die eigenen Resili- enzfähigkeiten zu aktivieren. Es ist wie beim Mannschaftssport: Nach dem Spiel analysieren die Spieler gemeinsam den Spielverlauf – eine wichtige Quelle für die Weiterentwicklung der Spielzüge, um das nächste Spiel zu gewinnen. Das ideale Zeitfenster für diese Reflexion ist kurz. Ebenso wie nach kritischen Projekten erleben wir auch nach akuten Krisen die reaktive Tendenz, so schnell wie möglich „back to normal“ zurückzuge- hen. Wir möchten gerne schnell weiter- machen. All unsere Aufmerksamkeit ist auf die Gegenwart und die Zukunft ge- richtet, um das Geschäft zum Laufen zu bringen. Die vergangenen Erfahrungen verblassen dann schnell. Sie werden, wenn überhaupt, informell oder indivi- duell verarbeitet. Vieles erscheint auch schlecht rekonstruierbar. Kritische Retro- spektiven werden mitunter auch vermie- den, weil man befürchtet, dass Konflikte durch widersprüchliche Interpretationen, mögliche Kränkungen und Schuldzuwei- sungen hochkommen könnten. Je mehr Zeit verstreicht, umso schwieriger wird eine Rekonstruktion. Narrative gerinnen zu festen Realitäten, sodass Details nicht mehr oder nur noch sehr selektiv erinnert werden. Resilienz-Check als Fenster zum System Der Resilienz-Check nutzt das Potenzial der wertvollen und noch frischen Erfah- rungen, die Füh- rungsteams und Mitarbeitende in der Krise gemacht haben. In einer ge- meinsamen Ereigni- suntersuchung rekon- struieren die Beteiligten aus verschiedenen Perspektiven die zugrundeliegenden Muster der Zu- sammenarbeit und die Art und Weise, wie sie sich organisiert haben. Die Krise wird zu einem „Fenster zum System“: • Wie haben wir uns in der unerwar- teten Situation ein umfassendes Bild gemacht? Was haben wir im Rückblick unterschätzt, übersehen oder missach- tet? Wer oder was hätte uns rückbli- ckend geholfen, das anders zu betrach- ten? • Welche Vulnerabilitäten und latenten Probleme sind sichtbar geworden? Wel- che Automatismen und Reflexe haben uns zum Beispiel geleitet? • Wie können wir die guten Erfahrungen sichern und mit anderen teilen? Wie können wir negative Erlebnisse in Zu- kunft vermeiden? In unserer Praxis hat sich für einen sol- chen ersten Resilienz-Check und die R Fünf Muster im Umgang mit Unsicherheit und Krisen Abbildung 1. Rückständige Unternehmen kontrollieren das Erwartbare. Erst in den beiden obersten Stufen (proaktiv und wertschöpfend) wird der Austausch über das Unerwartete vorbildlich gefördert. Quelle: ICL Berlin WERTSCHÖPFEND (Wir steigern unsere Leistungsfähigkeit und Agilität.) · Organisationale Resilienzfähigkeit ist Teil der KPI/Steuerung und wird regelmäßig beobachtet · Investieren in informelle Netzwerke/interne Kommunikation (gilt als Wettbewerbsvorteil) · Bewusste Auswahl von Personal (Mischung) · Konstruktives Bearbeiten des Präventionsparadoxons · Budget im Geschäftsmodell, Anbieter/Ausbilder für andere Organisationen PROAKTIV (Wir suchen nach Abweichungen, Unklarheiten, Impulsen.) · Intensives, interdisziplinäres und hierarchieübergreifendes Lernen aus Ereignissen und von anderen (Ländern, Branchen, Kontexten, ...) · Arbeit mit Szenarien und Vor-Ort-Trainings: Fokus auf kollektivem Sensemaking in unerwarteten Situationen und indirekter Resilienz · Kollektive Rituale der Partizipation/Entscheidung unter Unsicherheit · Metamodelle für Besetzung von Krisenstäben und externem Support · Intelligentes Wissensmanagement KALKULATIV (Wir kontrollieren mit Regeln und Systemen.) · Vorschriften für Krisensituationen mit dem Ziel der Zertifizierung (Einrichtung von Krisenstäben, Rollen und Ver- antwortlichkeiten, detaillierte Notfallpläne, ...) · Vorschriften und Notfallpläne existieren vor allem auf dem Papier · Delegieren des Themas an Fachexperten (Risikomanager) · Notfallübungen konzentrieren sich auf erwartbare Störungen (Feuerwehrübung) · Krisenstäbe: Die Führung dominiert Fachexpertise REAKTIV (Nach schwerwie- genden Ereignissen tun wir viel.) · Aktiv werden erst bei großem Druck oder einer vorangeschrittenen Krise · Aktionismuster: schnelle, harte Reaktionen auf Ereignisse, Quick Fixes · Publikumswirksames Agieren und schnelle Suche nach Schuldigen/externen Ursachen · Wunsch: Schnelles „Back-to-normal“ GLEICHGÜLTIG (Wen interessiert es ...?) · Durchgetakteter operativer Alltag, Effizenz oberstes Ziel · Bagatellisieren und aktives Vertuschen von Frühwarnsignalen und Risiken · Bestrafen von schlechten Botschaften und Kritikern, Belohnen von „Helden“ · Beschönigung nach oben
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