Wirtschaft und Weiterbildung 10/2020

titelthema 20 wirtschaft + weiterbildung 10_2020 anderen zwei Prinzipien beschäftigen sich mit der Frage, wie es im Krisenfall gelingen kann, entscheidungsfähig zu werden. Kathleen Sutcliffe und ihre Kollegen emp- fehlen für den resilienten Umgang mit der Covid-19-Pandemie drei Strategien: Teams sollen kurze, kollektive Lern- schleifen beziehungsweise Stopppunkte wie Debriefings einbauen. Solche struk- turierten Kommunikationsroutinen ver- hindern dysfunktionale Tendenzen wie Tunnelblick oder Gruppendenken, die durch Überforderung, Informationsflut und Zeitnot entstehen. Vorhandenes Wis- sen und Wahrnehmungen werden gezielt und effizient geteilt und alternative Hand- lungsmöglichkeiten ausgelotet. Zweitens machen sie darauf aufmerk- sam, dass Organisationen oder Teams im Krisenfall ihre bestehenden Regeln, Vor- gehensweisen und Ressourcen nicht ein- fach über Bord werfen sollten. Resiliente Teams „take stock of what they have to work with – their routines, roles and re- sources – and then reconfigure, redeploy and repurpose“. Drittens betonen die Experten, mit den Emotionen der Beteiligten sorgsam um- zugehen. Auch wenn die Zeit knapp ist, braucht es gezielte, gut strukturierte Rou- tinen, die es den Beteiligten ermöglichen, über Stress, Ängste und unmittelbare Sor- gen zu berichten. Auch Entscheiderteams brauchen Raum, um ihre Beziehungen zu pflegen. Auch wenn die Prinzipien in der The- orie sinnvoll klingen mögen – im Kri- senfall erweist sich dieses Umschalten auf eine andere Form des Organisierens als anspruchsvoll. Das liegt zum einen daran, dass resilientes Organisieren kon- traintuitives Handeln erfordert. Denn in Krisen und bei hoher Unsicherheit nei- gen wir dazu, nach Bekanntem im Un- bekannten zu suchen. Aus Selbstschutz neigen die Beteiligten dazu, mögliche Gefahren regelrecht zu bagatellisieren („Das ist doch nicht neu“, „Das ist doch nichts anderes als eine Grippe“). Zudem verfällt man gerne reflexhaft in tief ver- wurzelte und folglich sehr gut eingeübte Verhaltensmuster. Das spontane Experimentieren mit un- erprobten Mustern und Entscheidungs- prozessen erscheint in einer Extremsitu- ation zu riskant. Und dies ist mehr als nachvollziehbar. Viele Führungskräfte denken zum Beispiel, dass von ihnen in Krisensituationen „heroisches“ Verhal- ten erwartet wird. Sie tun so, als hätten sie den Überblick und geben vor, was zu tun ist, und regieren von oben nach unten durch. Für Mitarbeitende hat das den Vorteil, dass sie weniger Unsicherheit aushalten müssen. Mit diesem kollek- tiven Muster verspielen alle Beteiligten die Chance, wertvolle Expertise oder Wahrnehmungen und Einschätzungen vom Ort des Geschehens in ihre Sensema- king- und Entscheidungsprozesse mitein- zubeziehen. Hat sich eine Krise erst ein- mal entwickelt, besteht die Schwierigkeit darin, dass Entscheidern oft schlicht die Zeit fehlt, die „WIE“-Frage radikal neu zu stellen. Die Frage kommt gar nicht vor. Wenn es schon soviel Unsicherheit über das „WAS“ gibt (also die einzuschlagende Richtung), soll nicht auch noch das be- währte „WIE“ infrage gestellt werden (die Prozesse, Rituale, Personen und Prak- tiken, mit denen bisher Entscheidungen herbeigeführt wurden). In der Krise erleben wir es hautnah: Täg- lich sich ändernde Fakten, widersprüch- liche Interpretationen der Gemengelage durch Wissenschaftler und Politiker, geringe Halbwertszeit von Wissen und Entscheidungen, unterschiedliche Vorga- ben durch Bund und Länder lassen die Komplexität und Unsicherheit explodie- ren. Die Erwartungen der Belegschaft an die Verantwortlichen sind hoch. Sie sollen Orientierung und Berechenbarkeit schaf- fen. Und der operative Druck bestimmt zusätzlich den Alltag. Resilientes Verhalten muss geübt werden Organisationen müssen also bereits im Normalbetrieb geübt haben, wie sie im Fall der Fälle vorgehen, um in der unbe- kannten Situation Sinn zu erzeugen und Entscheidungen zu treffen. Nur so kön- nen sie in Krisensituationen reflexhaft auf „erprobte“ Muster zurückgreifen. Je größer das erprobte Verhaltensrepertoire, umso besser sind Teams in der Lage, diese dann wiederum an konkrete Situati- onen anzupassen. Auch in unseren Beispielen haben die Be- teiligten auf bereits vorhandenes Wissen und vorhandene Erfahrungen zurückge- griffen. Task-Force-Teams im Militär oder bei der Bergwacht, Flugzeugcrews oder Feuerwehren: Alle wissen, dass situatives Entscheiden in komplexen und unsi- cheren Kontexten immer auf reflektiertes Experimentieren in ähnlichen Situationen aufbaut. So hatte sich zum Beispiel der Leiter eines Chemiewerks mit Krisenein- sätzen beim Militär auseinandergesetzt und bereits kollektive Bearbeitungs- formen komplexer Bedrohungssituati- onen im Rahmen von Simulationen er- lebt. Ein anderes Team simulierte in Form eines sogenannten „Gun drills“ die eigene R Dr. Annette Gebauer ist seit 2003 selbst- ständige Organisa- tionsberaterin mit den Beratungsschwerpunkten Corpo- rate Learning, High Reliability Organi- zing sowie Management- und Kultur- entwicklung. Sie promovierte in Witten/ Herdecke und gründete die ICL GmbH. Interventions for Corporate Learning (ICL) GmbH, Choriner Straße 58, 10435 Berlin Tel. 030 12091206 www.icl.berlin AUTOREN Stefan Günther begleitet seit über 25 Jahren Verän- derungsprozes se (Schwerpunkt: Ler- narchitekturen und differenzierte For- men der Mitgestaltung). Er ist seit vie- len Jahren Mitglied des Kernteams und Lehrtrainer bei Simon, Weber & Friends und Netzwerkpartner von ICL. Diplom-Psychologe, Management- und Organisationsberatung In der Röde 38, 64367 Mühltal Tel. 06151 494164 www.shguenther.com

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==