Wirtschaft und Weiterbildung 10/2020
titelthema 18 wirtschaft + weiterbildung 10_2020 04. Jeder entwickelt eine hohe Aufmerksamkeit gegenüber beobachteten Abweichungen. 05. Perspektivenunterschiede, die zu kontroversen Diskussi- onen führen, sind erwünscht. R In einem Chemiewerk etablierte die Führungsmannschaft frühzeitig zu Be- ginn der Corona-Krise ein interdiszipli- näres Team, das die täglich wechselnde Situation analysierte und verschiedene Szenarien durchspielte. Einmal gefällte Entscheidungen wurden zwar stringent verfolgt, aber in regelmäßigen Abständen auch hinterfragt und auf die neue, völ- lig unerwartete Situation angepasst. Das erforderte viele transparente Rückkopp- lungsschleifen sowie ein hohes Vertrauen der Belegschaft in den Prozess und in die an den Entscheidungen beteiligten Per- sonen. Corona-Trubel „stört“ Filmproduktion Ein Filmteam wird mitten in der Vorbe- reitung auf eine internationale Serie für eine bekannte Streamingplattform von der Corona-Pandemie überrascht. Der Drehbeginn ist für Anfang Mai 2020 in Ungarn geplant. Als Mitte Februar die Corona-Fallzahlen in Europa ansteigen denkt niemand ernsthaft daran, dass der Drehstart gefährdet sein könnte. Wie vie- lerorts kann man sich das Ausmaß der Krise noch nicht vorstellen und reagiert mit Normalisierungen: Bis Drehstart ist die Pandemie eingedämmt oder sogar schon wieder vorbei. Trotzdem spielt ein interdisziplinäres Team aus Drehbuchautor, Regisseur, Pro- duktion, Herstellungsleitung und Stre- amingdienst jeden Tag in Echtzeit neue Szenarien durch, um mit einer hohen Be- reitschaft zur Flexibilität Entscheidungen zu treffen: Sind wir vorbereitet für so einen Fall? Welche Möglichkeiten der An- passung haben wir? Was können wir jetzt schon tun? fühle und ihren Frust (unter Einhaltung der Hygieneregeln) rauslassen können. Als schließlich etwa zwei Monate später als ursprünglich geplant gedreht werden kann wird das Team mit weiteren uner- warteten Ereignissen konfrontiert. Un- garn schließt im September ein zweites Mal seine Grenzen. Es droht die Gefahr, dass die Schauspieler nicht mehr ins Land kommen. Wieder müssen zu den parallel weiterlaufenden Dreharbeiten Szenarien durchgespielt und Pläne geän- dert werden (so werden alle Schauspieler für die nächsten Wochen einen Tag vor der Grenzschließung ins Land gebracht). Kein Wunder, dass bei all dem Trubel das Team zeitweise den Fokus verliert und die ursprüngliche Idee der Serie leidet. Hilfreich ist hier die enge Kooperation der beiden Showrunner, die das Team ge- meinsam führen, sich wechselseitig auf blinde Flecken aufmerksam machen und dem jeweils anderen den Rücken frei- halten. Nicht eine Einzelperson hat das sagen, sondern ein Führungsduo. Untaugliche Versuche einer Krisenbewältigung Rückblickend lassen sich aber auch kon- traproduktive Muster in der Krisenbe- wältigung beobachten. In einer Gesund- heitsorganisation bagatellisieren einige leitende Ärzte das Risiko von Corona- Infektionen. Lange hält man an den für den Normalbetrieb konzipierten Bewäl- tigungsmustern fest. Als schließlich ein Krisenstab ins Leben gerufen wird, wer- den wichtige Entscheidungen zunächst weiterhin durch die Führung ohne wichtige Fachex- perten getroffen. Erst später, als Für den Streamingdienst soll die Film- produktion ein Testballon dafür sein, wie Drehen in der Pandemie funktionieren kann: Was können wir am Drehbuch än- dern, um den (stetig wechselnden) Co- rona-Auflagen zu entsprechen? Wie kön- nen etwa Massenszenen mit vielen Kom- parsen durch „Special effects“-Szenen ersetzt werden, in denen die Komparsen digital multipliziert werden? Welche Än- derungen am Drehplan sind denkbar, die am wenigsten kostenintensiv sind und geringe Folgewirkungen haben? Monatelang hat man am Drehbuch gefeilt und jetzt soll auf die Schnelle vieles auf den Kopf gestellt werden. Jede Änderung hat komplexe Abhängigkeiten für den In- halt sowie die Umsetzungsplanung, die durchgespielt werden müssen. Gerade hier hilft dem Team, eine klare Haltung zur Serie beziehungsweise zum Endpro- dukt zu haben. Eine emotional gefestigte Vorstellung oder das „Big Picture“ vom Ziel macht Improvisationen auf dem Weg dorthin möglich. Für die Wahrung und Kommunikation des Big Pictures sor- gen bei der Serie die beiden sogenann- ten „Showrunner“ (in diesem Fall der Drehbuchautor und der Regisseur). Sie betreuen die Serie über alle Departments hinweg vom ersten Tag der Entwicklung bis zum Tag der Ausstrahlung als krea- tives Duo. Die hohe Unsicherheit in der Planungs- phase verursacht ein Wechselbad der Ge- fühle und wirkt sich auf die Motivation der Teammitglieder aus: Es ist unklar, ob die Serie überhaupt gedreht werden kann, und trotzdem muss das Team die Drehvorbereitung mit hohem Leistungs- anspruch weitertreiben. Hier helfen kurze Stoppunkte in den umliegenden Kneipen und Bars, wo die Teammitglieder ihre Ge- 06. Unterschiedliche Wahrneh- mungen werden ohne Schuld- zuweisungen ausgetauscht.
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