Wirtschaft + Weiterbildung 4/2020
R wirtschaft + weiterbildung 04_2020 31 werken werden angesichts der weltum- spannenden Wertschöpfungsnetze viel wichtiger, wofür auch neue Haltungen eingenommen werden müssen, der Stel- lenwert von Beziehungen viel stärker in den Mittelpunkt rückt und soziale Koor- dinierungsprozesse neu zu denken und zu gestalten sind. Ordnung im bunten Treiben Übergreifender wird vorgeschlagen, dass Unternehmen sich klarmachen sollten, welches „Spiel“ sie spielen: ein „infinite game“ oder ein „finite game“. Die Un- terscheidung stammt von James Carse (Buchtipp: „Finite and infinite games“, Free Press, 2013) und auch von Simon Sinek (Buchtipp: „The Infinite Game: How Great Businesses Achieve Long-Las- ting Success“, Portfolio Penguin, 2019). Ein finites Spiel hat bekannte Spieler (Wettbewerber), bekannte und akzep- tierte Regeln und gemeinsam akzeptierte Ziele, wie zum Beispiel in einem Markt der Marktführer zu werden. Strategische Entscheidungen über Ressourcen werden auf das Erreichen des Ziels gesetzt. Ein finites Spiel endet mit der Zielerreichung (und man muss ein neues starten), bindet viele Ressourcen auf dem Weg dahin (der für sich ja unsicher ist) und schlussend- lich kann man gewinnen oder verlieren. In einem infiniten Spiel sind die Spieler teils bekannt, teils unbekannt, es gibt sich verändernde Regeln und es geht im Kern darum, dass das Spiel weitergeht. Spieler verlieren dabei nicht, sondern scheiden aus dem Spiel aus (weil sie die Ressour- cen nicht mehr aufbringen wollen oder können, oder einfach, weil sie ein ande- res Spiel spielen möchten). Vor diesem ziemlich „bunten“ Geschehen ist die Suche nach einem identitätsstiften- den und Orientierung gebenden „Etwas“, um Organisationen zusammenzuhalten, nachvollziehbar. Daraus gewinnt die Idee, dass sich ein Unternehmen über einen starken (über das Unternehmen sogar hinauswirkenden) Purpose definiert, stark an Attraktivität. Nicht zuletzt auch, weil man nicht wirklich dagegen argu- mentieren könnte. Unter dem Purpose- Gedanken ist ein ökonomisch messbarer Gewinn ein „Abfallprodukt“ der Ausrich- tung nach einem überzeugend wirkenden Purpose. Das dockt auch gut an die Idee des infiniten Spiels an, bei dem es nicht um irgendwelche Ziele geht, sondern darum, im Spiel zu bleiben und entspre- chende Entscheidungen zu treffen. Man erhofft sich und wird durch die Blaupau- sen und scheinbar „erprobte“ Konzepte, die dafür vorgeschlagen werden, bestärkt, dass man mit einem solchen Purpose eine nachhaltigere und stärkere Bindung von Menschen an das Unternehmen, eine hö- here Identifikation und Sinnbindung zur Aufgabe und höhere intrinsische Motiva- tion der Mitarbeitenden erreichen kann. Die „Mittel“ dafür reichen von Methoden wie Design Thinking, agilen Prinzipien, der Stärkung von Einflussmöglichkeiten jedes Mitarbeitenden durch Empower- ment, Job Enrichment, Selbststeuerung und einer ausgewogenen Balance der individuellen Rollenkomplexität („Work- Life-Balance“). Weg von der Ressour- cenoptimierung (ein finites Spiel, denn Ressourcen sind irgendwann so optimal geschöpft, dass sie zu Ende sind) – hin zu Möglichkeiten der Potenzialentfaltung (ein infinites Spiel – da die Potenziale zunächst unentdeckt sind und nicht „zu Ende“ gehen). Die Attraktivität dieses Ansatzes geht aber noch darüber hin- aus. Es wird durch diesen gemeinsamen, alle Aufgaben durchziehenden Purpose versprochen, dass die Ausrichtung von Arbeitsprozessen stärker und der für Ko- ordinierung erforderliche Führungsauf- wand in der ganzen Organisation weniger wird. Es bestehe also die Hoffnung, dass durch den Wandel von einer Anleitung gebenden Führungskraft (Ressourcenop- timierung) zu einer coachenden und die Employability steigernden Rolle (Poten- zialentfaltung) endlich vollendet werden könnte. Denn durch den überzeugenden, über das eigene Tun und die Unterneh- men reichenden Purpose wird die Auf- gabenerfüllung intrinsisch und freiwillig geleistet. Purpose schadet Flexibilität Was „übersieht“ man möglicherweise, wenn man eine „Purpose Driven Orga- nization“ auf die Beine stellen will? Was handelt man sich ein, wenn man die ganze Unternehmung auf einen überge- ordneten Purpose ausrichten möchte? Die Überlegungen, dass eine über die eigentliche Arbeit hinausgehende Sinn- orientierung nützlich für Unternehmen sein kann, ist entgegen der aktuellen Wahrnehmung nicht neu. Aspekte und Ansätze in dieser Richtung stammen aus den Hawthorne-Studien (grundlegend für die Human-Relations-Bewegung bei der Betrachtung von Organisationen) oder aus der Anreiz-Beitrags-Theorie. Kernge- danke ist, dass die Motivation und letzt- lich die Produktivität größer ist, wenn eine Bindung der Arbeit an einen Sinn für die handelnden Personen erfolgt. Hier nun die Hypothese, die im Folgen- den behandelt werden soll: „Wenn sich eine Organisation auf einen übergeord- neten sinnstiftenden und geteilten Pur- pose ausrichtet, verliert sie Elastizität und macht sich inflexibler, als es sein müsste.“ Abgesehen von den Diskursen und der Mikropolitik, die mit mehr oder weniger großem Aufwand in einer Pur- pose Driven Organisation immer wieder nach festen Programmen bei jeder Ent- scheidung geleistet werden muss, wirkt der Purpose als Inflexibilisierungs-Boos- ter. Denn damit der Purpose stabilisierend
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