Wirtschaft + Weiterbildung 4/2020
wirtschaft + weiterbildung 04_2020 29 das Team der Personalentwicklung von Comdirect war diese Voraussetzung nicht durchgängig erfüllt, da nur in einem Teil- Team und hier wiederum nur teilweise gemeinsam an Themen gearbeitet wurde. 3. Selbstorganisation erfordert Com- mitment Selbstorganisation gelingt nur, wenn Mit- arbeiter selbst organisiert arbeiten wollen und können. Sie müssen einerseits von Sinnhaftigkeit und Nutzen überzeugt sein und das Modell auch mittragen, wenn es anstrengend wird. Andererseits erfor- dert Selbstorganisation hohe Kompetenz der Mitarbeiter in vielerlei Richtungen. Zunächst einmal müssen diese fachlich kompetent sowie willens und in der Lage sein, sich selbst zu organisieren und einen hohen Grad an Eigenverantwortung wahrzunehmen. Gefragt sind Menschen, die sich durch ein sehr hohes Maß an Kooperationsbereitschaft sowie Konflikt- und Reflexionsfähigkeit auszeichnen. Selbstorganisation setzt Respekt, emoti- onale Intelligenz und Gleichberechtigung aller Teammitglieder voraus. 4. Selbstorganisation braucht Führung – in neuer Form Selbstorganisation ist nicht führungslos. Es bildet sich immer Führung innerhalb eines Teams heraus. Führung findet auf jeden Fall statt – bewusst oder unbe- wusst, formell oder informell. Wichtig ist, sie bewusst zu gestalten und ein Füh- rungsvakuum erst gar nicht entstehen zu lassen. Der Verzicht auf Hierarchie führt inner- halb eines Teams zunächst einmal zu mehr Macht. Schon Henry Mintzberg beschreibt diesen auf den ersten Blick unerwarteten Effekt: Keine Struktur ist darwinistischer, keine fördert mehr den Fitten – solange er fit bleibt – und keine ist verheerender für den Schwachen. Die verflüssigten Strukturen begünstigen die inneren Konkurrenzen und sind manch- mal Nährboden für heftige Machtkämpfe (Mintzberg, 1979). Insofern ist es auch nicht überraschend, dass gerade in ent hierarchisierten Gruppen, in denen Macht tabuisiert ist, oft ein permanenter unter- schwelliger Kampf um Einflussnahme stattfindet und sich heimliche Führungs- strukturen ausbilden. Das kann die posi- tiven Effekte der Selbstorganisation über- schatten (Jumpertz, 2018). Was Selbstorganisation stattdessen benö- tigt, ist eine neue Form von Führung: eine Führung, die den Rahmen vorgibt und dessen Einhaltung sicherstellt. Während Leadership an Stellenwert gewinnt, ver- liert (Mikro-)Management an Relevanz. Führung fungiert als Moderator, Teament- wickler und Coach. Sie fördert Vielfalt und Diversität und ist Klärungshelfer bei Konflikten. Auf dieser Basis entsteht für das Team Sicherheit und Orientierung, welche die Basis für die gemeinsame Ausrichtung, Vertrauen und Leistungsfä- higkeit bilden. Ob die Führungsrolle von einer Person wahrgenommen oder als Shared Leadership im Team verteilt wird, ist dabei grundsätzlich erst einmal irrele- vant. Hauptsache ist, es funktioniert. Die Erfahrung zeigt, dass Teams in der Regel nicht dazu in der Lage sind, die beschrie- benen Aufgaben der Führung von heute auf morgen aus sich heraus zu meistern. Die neue Führungsrolle ist anspruchsvoll und nicht mit Laisser-faire zu verwech- seln. Sie erfordert einen systematischen Prozess der Selbstreflexion und kontinu- ierlichen Weiterentwicklung aufseiten der Führungskraft. Nach meiner Einschätzung bildeten sich im Team der Personalentwicklung von Comdirect während meiner Abwesenheit ein bis zwei informelle Führer heraus. Die Rolle des Routers wurde vom Rest des Teams als gesetzte Führung seitens der Führungskraft empfunden und ab- gelehnt. Nach meiner Rückkehr gab es ein unausgesprochenes Machtgerangel um die Verteilung von Führung im Team. Dies war belastend und führte dazu, dass das Team sich nach der Rückkehr lange und zulasten der Präsenz am Kunden mit sich beschäftigt hat. 5. Selbstorganisation ist ein kontinuier- licher Entwicklungsprozess Viele, die sich auf den Weg zur Selbstor- ganisation gemacht haben, berichten von einem langen, anstrengenden und per- sönlich sehr fordernden Weg, den nicht jeder bereit ist mitzugehen. Gleichzeitig kann der Prozess mit viel Freude sowie hoher Selbstwirksamkeit und Identifika- tion verbunden sein. Selbstorganisation eignet sich nach unserer Erfahrung eher nicht für zeitlich befristete Auszeiten. Vielmehr ist es ein kontinuierlicher Ent- wicklungsprozess, bei dem man nicht einfach den Schalter umlegt, um ihn da- nach wieder zurückzustellen. Ein Experiment ohne Zurück Ein Jahr nach meiner Rückkehr habe ich eine neue Rolle als Leitung Führungs- kräfteberatung, Personalservices und Re- cruiting innerhalb des Personalbereichs übernommen. Die Leitung Personalent- wicklung wurde aus dem Personalent- wicklungsteam heraus nachbesetzt. Das Team setzt den Weg der Selbstorganisa- tion und den damit einhergehenden Lern- und Entwicklungsprozess fort. Darüber hinaus fungiert der Personalbereich als Ganzes als Vorreiter für neue Formen der Zusammenarbeit. Angeregt durch die Erfahrungen des PE- Teams steuert Personal sich zwischen- zeitlich mittels eines Mix aus hierarchi- scher Organisation im Liniengeschäft und Selbstorganisation des bereichsübergrei- fenden Projektgeschäfts. Das Experiment hat natürlich auch über den Personalbe- reich hinaus eine Wirkung entfaltet: An verschiedenen Stellen wird mit unter- schiedlichen Formen von Selbstorgani- sation gearbeitet. Der Personalbereich nimmt dabei eine aktive, beratende und begleitende Rolle ein, wobei sich die ei- gene Erfahrung der Personalentwickler für die interne Akzeptanz und Glaubwür- digkeit als ausgesprochen hilfreich er- weist. Das Ziel des Experiments ist damit mehr als erfüllt. Anne Grobe Buchtipp. Dieser Artikel ist im Buch „HR- Trends 2020“ beim Haufe Verlag erschie- nen. Karlheinz Schwuchow und Joachim Gutmann haben zahlreiche neue Konzepte und Praxisbeispiele zusammengetragen.
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