Wirtschaft + Weiterbildung 4/2020

personal- und organisationsentwicklung 28 wirtschaft + weiterbildung 04_2020 Teams nicht miterlebt hatte und mich somit von „meinem“ Team ein Stück ab- geschnitten fühlte. Vieles im Team spielte sich im zwischenmenschlichen und emo- tionalen Bereich ab und führte zunächst zu Enttäuschungen über wechselseitig nicht erfüllte Erwartungen zwischen mei- nen Mitarbeitenden und mir, aber auch unter den Mitarbeitenden selbst. Unter anderem gab es unterschiedliche Erwartungen an die künftige Rollenver- teilung und -gestaltung im Team. Wäh- rend die Selbstorganisation und die damit einhergehende Rollen- und Aufgabenver- teilung im Team für mich eine zeitlich befristete Lösung zur Überbrückung mei- ner Abwesenheit gewesen war, war die Selbstorganisation für einige Teammit- glieder im Verlauf der sechs Monate lieb gewonnene Realität geworden. Sie woll- ten den hohen und wertgeschätzten Grad an Freiraum und Eigenverantwortung bei- behalten, weiter verteilte Führung leben und hatten dazu passend meine zukünf- tige Rolle als Führungskraft während mei- ner Abwesenheit für mich neu erfunden. Andere Teammitglieder wiederum erwar- teten und wünschten sich Orientierung durch hierarchische Führung von mir als Führungskraft zurück. Dieses Gesamtset an unterschiedlichen Erwartungen führte zu Spannungen und hoher Dynamik im Team. Die Rollen und die Stellung der einzelnen Mitglieder innerhalb des Teams hatten sich spürbar verändert. Der Ursprungsplan, die Erfolgsfaktoren und Elemente, die in die weitere Füh- rungsarbeit integriert werden sollten, systematisch auszuwerten, gestaltete sich unter den beschriebenen Rahmenbedin- gungen herausfordernder als gedacht. Nicht alle Erfolgs- wie auch Misserfolgs- faktoren waren auf Anhieb klar greif- und formulierbar. Erst über eine Aussprache konnten die Beziehungen stabilisiert, Ver- trauen zurückgewonnen und die Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren systematisch ausgewertet und integriert werden. Der Wechsel vom Storming zurück ins Nor- ming beanspruchte mehrere Monate. Entscheidende Erfolgsfaktoren für Selbstorganisation Nach intensiver Reflexion und Beschäf­ tigung mit unseren eigenen, aber auch den Erfahrungen anderer haben sich für uns folgende Learnings für den Erfolg von Selbstorganisation herauskristallisiert. 1. Selbstorganisation setzt Anschluss- fähigkeit an die Organisation voraus Selbstorganisation findet nicht losgelöst vom Umfeld statt, sondern dockt an die bestehende Organisation an. Das wird besonders spürbar, wenn sich ein Teil- Team auf den Weg zur Selbstorganisation begibt und dabei innerhalb eines noch hierarchisch organisierten Unternehmens agiert. Beispielsweise erfordert Selbst­ organisation volle Transparenz innerhalb des Unternehmens, damit alle Mitarbeiter jederzeit das „Big Picture“ kennen und freien Zugang zu allen für sie relevan- ten Informationen haben. Dies ist eine anspruchsvolle Voraussetzung. In hie­ rarchisch geführten Organisationen wird Wissen bis heute noch oft mit einem Vor- sprung an Macht verbunden und somit nicht geteilt. Auch erfordert das bedin- gungslose und unternehmensweite Teilen von Informationen und Wissen einen Ver- trauensvorschuss seitens der Unterneh- mensleitung, den nicht jede Organisation bereit ist zu geben. Selbstorganisation bedarf darüber hinaus einer eindeutigen Richtungsvorgabe und eines sehr klaren Rahmens. Nicht zu unterschätzen ist dabei, wie wichtig die Unterstützung des Topmanagements ist. Im Zuge der Einführung von Selbstor- ganisation kann es dazu kommen, dass sich die Führungskraft in ihrer bisherigen Rolle selbst überflüssig macht. Diese Er- fahrung ist für viele Führungskräfte, die lange Zeit anders sozialisiert wurden und ihren Selbstwert an das Maß der eige- nen Wichtigkeit knüpfen, unangenehm und schwer auszuhalten. Hier bedarf es der Begleitung und Unterstützung. Wichtig ist, die Frage nach der Existenz­ berechtigung der Rolle von der eigenen Person zu trennen. Den Führungskräften müssen aber auch attraktive Entwick- lungsperspektiven geboten werden, sonst werden sie nicht oder allenfalls mit Wi- derstand und fehlendem Commitment an ihrer eigenen Abschaffung arbeiten. Auch die Frage nach der künftigen Berechti- gung des häufig deutlich höheren Gehalts von Führungskräften und weiterer Status- vorteile verlangt nach einer Antwort. 2. Selbstorganisation muss zur Art der zu bewältigenden Aufgabe passen Selbstorganisation ist nicht per se die beste Organisationsform. Vielmehr steht und fällt ihr Mehrwert mit der Art der zu bewältigenden Aufgabe. Ist die Entschei- dungssituation einfach oder kompliziert, kommt man mit Standardprozessen und Lean-Ansätzen in der Regel weiter. Ist sie hingegen komplex oder gar chaotisch, empfehlen sich agile Methoden. Hier kann Selbstorganisation ihr volles Po- tenzial und ihre Kraft entfalten. Es hängt folglich primär von der Art der Aufga- benstellung ab, ob Selbstorganisation in einem Arbeitsbereich sinnvoll ist oder nicht. Rückblickend betrachtet, erwies sich die Selbstorganisation in einem Teil des Ta- gesgeschäfts der Personalentwicklung als wenig sinnvoll – und zwar in jenen Aufgabenfeldern, die sich durch wieder- kehrende Arbeitsprozesse auszeichnen, wie zum Beispiel Seminaradministration, Trainingsdurchführung oder Nachwuchs- betreuung. Hier geht es allenfalls um Op- timierung von Bekanntem, nicht um das Explorieren von Unbekanntem. Selbstorganisation setzt ein verbindendes Interesse voraus. Sie ist nur dort geeig- net, wo Menschen mit gemeinsamem Ziel und einander ergänzenden Fähigkei- ten an einer Aufgabe arbeiten, die sich gemeinsam besser bewältigen lässt als allein. Fehlt dieses gemeinsame Ziel und hat man es stattdessen mit einer Indivi- dualistenansammlung zu tun, entstehen unproduktive Gruppendynamiken, wie Svenja Hofert es auf dem Teamworks- Blog in ihren sieben Regeln für die Selbst­ organisation von Teams beschreibt. Für R Anne Grobe ist die Leiterin Führungskräf te- beratung, Perso- nalservices und Recruiting bei der Comdirect Bank AG in Quickborn. Comdirect Bank AG Pascalkehre 15, 25451 Quickborn www.comdirect.de AUTORIN

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