Wirtschaft und Weiterbildung 3/2020
wirtschaft + weiterbildung 03_2020 23 Schlamperei meist zu enormen Folgekos ten in der Zukunft, weil teure Repara- turen erforderlich werden. Und: Wer sich vorschnell mit dem Erreichten oder dem üblichen Niveau zufriedengibt, der ver- liert seine Zukunftsfähigkeit. Für den Pol „gut genug“ spricht, dass nur Selbstge- nügsamkeit zu Zufriedenheit und Glück führt. Warum immer mehr und mehr und mehr? Ziele dürfen nicht zu Zwängen werden. Perfektionstrieb entsteht oft aus mangelnder Zuwendung in der Kindheit. Gerade im Change ist das Gut-Genug- Prinzip sinnvoll, weil nicht alles bis ins letzte Detail durchdacht werden kann und meist schnell entschieden werden muss. „Why perfect?“ Die wichtigsten Leitfragen zu diesem Spannungsfeld „perfekt/gut genug“ sind: 1. Ist Exzellenz der Leitgedanke im Ge- schäftsmodell der Organisation? 2. Welche Risiken birgt der Verzicht auf Perfektion? 3. Was bedeutet Perfektion konkret? 4. Wie wird verglichen? Vergleicht man sich mit anderen? Oder vergleicht man sich mit dem Absoluten? 5. Welche Kosten verursacht das Streben nach Perfektion? 6. Welche Zielkonflikte gibt es auf dem Weg zur Perfektion? Das Streben nach einer möglichst hohen Vollkommenheit ist immer dann sinn- voll, wenn das Geschäftsmodell einer Firma (zum Beispiel eines Fünf-Sterne- Luxus-Hotels) danach verlangt. Auch in Hochrisikobereichen wie in einem Atom- kraftwerk oder auf einem Flugzeugträger sollten Projektmanager nach Exzelllenz streben. Andererseits muss man sich Perfektion auch leisten können, denn sie wird im Rahmen eines Change-Projekts sehr schnell unbezahlbar. Um seriös beurteilen zu können, ob etwas perfekt ist, braucht man auch noch einen Maßstab. Der fehlt in der Regel, sodass es beim Thema Exzellenz gerne zu situativen Relativierungen kommt („Unser Service ist unter den gegebenen Umständen perfekt“). Aus eigener Er- fahrung schreibt Claßen: „Bei Change- Projekten Vollkommenheit erreichen zu wollen, ist lebensfremd: Die hundertpro- zentige Zustimmung aller Stakeholder – utopisch. Die vollständige Partizipation aller Betroffenen – idealistisch. Die lü- ckenlose Qualifizierung aller Mitarbeiter – unrealistisch.“ Der Freiburger Berater plädiert für realistische Messlatten und einen sparsamen Einsatz der finanziellen Mittel, damit der Change mit einer „Okay- Lösung“ fortgesetzt werden kann. Über den Umgang mit Spannungsfeldern Auch Philosophen haben sich mit Span- nungsfeldern befasst und suchten die Lö- sung auf einer Ebene, die auf einem hö- heren Niveau liegt als das Spannungsfeld. Georg Wilhelm Friedrich Hegel war ein deutscher Philosoph, der als wichtigster Vertreter des deutschen Idealismus gilt. Er konfrontierte den einen Pol (die These) mit seinem Gegenpol (die Antithese) wo- raus sich mittels Reflexion dann ein neues Verständnis ergab, die sogenannte Syn- these. Mit ihr sollte das Spannungsfeld aufgelöst werden. Der Praktiker Claßen schränkt ein: „Für Wandelvorhaben sind zumindest bisher keine breit akzeptierten Synthesen gefun- den worden. Weshalb der Change-Leader weiterhin mit Widersprüchen umgehen muss und gezwungen ist, Einzelfall für Einzelfall Entscheidungen zu treffen.“ Es bleibt ihm nur, nach dem Mittelwege (Balancing) zu suchen. Dieser Mittel- weg liegt laut Claßen selten genau in der Mitte, sondern ist mal näher beim einen und mal näher am anderen Pol, abhän- gig von der jeweiligen Situation. „Bildlich gesprochen wird das Für und Wider aus- balanciert“, erklärt Claßen, für den solche Mittelwege nur dann ein fauler Kompro- miss sind, wenn eine Sichtweise kleinge- redet und damit verniedlicht wird (zum Beispiel wird von den Befürwortern von Rationalisierungswellen gelegentlich das betriebliche Gesundheitswesen als erster Schritt eines Unternehmens in Richtung Partyzone verunglimpft). Zwickmühlen lassen sich aber sehr wohl handhaben, wenn man den jeweiligen Argumenten ihr angemessenes Gewicht zugesteht. Wobei eine situative Entscheidung stets eine Momentaufnahme bleibt. „Späte- stens übermorgen wird der Change Ma- nager schon wieder neu überlegen müs- sen.“ Mit einem dogmatischen Schwarz-Weiß- Denken findet man nie einen gangbaren Mittelweg, weil der „bunte Zwischen- raum“ zwischen den beiden Polen igno- riert wird. Gerade am Beginn von Mo- dewellen ist zu beobachten, dass ein Pol (wie zum Beispiel die „Agilität“) absolut gesetzt wird und die Argumente, die die Bedeutung des Pols relativieren könnten, (zunächst) ignoriert werden. Die Igno- ranz von Spannungsfeldern ist eine leider manchmal zu beobachtende, aber naive Strategie. Ein Change Manager wird ein Leben ohne Widersprüche nicht lange ge- nießen können. Fazit: Spannungsfelder bleiben eine un- abänderliche Realität im Business. Cla- ßen schließt sein ausgesprochen praxis- bezogenes Buch deshalb mit folgender er Empfehlung: „Ich finde, der Verant- wortliche eines Veränderungsprojekts kann – anstatt nachts wach zu liegen und zu grübeln – fünf Prozent seiner Ar- beitszeit im Terminkalender blocken und sich mit den gerade heißen Dilemmas beschäftigen, zunächst allein und dann umgeben von konstruktiv-kritischen Rat- gebern. Spannungsfelder bleiben für den Change-Leader Lust und Last zugleich. Aber ihre Wahrnehmung und eine situ- ativ stimmige Herangehensweise bringen das Wandelvorhaben voran. Der Kontext schlägt jedes Dogma.“ Martin Pichler R Buchtipp. Martin Claßen: Spannungsfelder im Change Management: Veränderungen situativ gestalten, Verlag Handelsblatt Fachmedien, Düsseldorf 2019, 216 Seiten, 39 Euro
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