Wirtschaft und Weiterbildung 3/2020
titelthema 22 wirtschaft + weiterbildung 03_2020 „Eine generelle Gebrauchsanweisung gibt es nicht“ Change-Papst John P. Kotter riet 1996 Change Mana- gern den „Sense of Urgency“ zu beschwören und er for- derte von ihnen: „Create a Vision“. Ohne Leidensdruck und Zukunftsbild keine Verbesserung! Gilt das heute noch? Martin Claßen: Kotters acht Change-Regeln müssen mit sieben Fragezeichen versehen werden. Nur eines seiner Allheilmittel (nämlich die „Zugkraft der Vision“) trifft nach empirischen Studien immer oder zumindest meistens zu. Es gibt immer wieder Transformationen, die ohne großen Leidensdruck auskommen und dennoch gelingen, etwa durch Einsicht und Vernunft. Sie selbst präsentieren Spannungsfelder. Welchen Nut- zen bietet das Denken in dieser Kategorie? Claßen: Spannungsfelder sind eine einfache Denkfigur. Es gibt zwei gegensätzliche Pole und viel Spielraum zwi- schen den einseitigen „Wahrheiten“. Ich rate dazu, nicht auf einen der beiden Gegensätze zu pochen, sondern nach einem konstruktiven Dialogprozess den klugen Mittelweg zu wählen, mit dem (fast) alle leben können. Nicht ohne ein gewisses Bauchgrimmen, das jeder Kompromiss erzeugt. Nur falls ganz spezielle, extreme Umstände vorliegen, muss man „Entweder-oder“ sagen. Vielfach bringt eine Abwägung Interview. Buchautor Martin Claßen bietet keine Patentrezepte und sagt stattdessen: „Es kommt darauf an“. Jeder Change verlangt einen individuell passenden Prozess, damit es vorwärts geht. Im Interview spricht Claßen über das Denken in Spannungsfeldern. im Sinne eines „Sowohl-als-auch“ aber die stimmigeren Lösungen. Ihr Spannungsfeld „Beweglichkeit“ hat die Pole „agil“ und „bürokratisch“. Da plädiert doch jeder für „agil“ … Claßen: Vielleicht im Internetgezwitscher, denn oft klingt eine Seite des Spannungsfelds schöner. Sie verkörpert den frischen Zeitgeist, wie das längst überreizte Schlagwort „agil“. Sind bürokratische Lösungen deswegen pauschal zu verdammen? Natürlich nicht. Es kommt darauf an! Es gibt durchaus Situationen, in denen agil der falsche Weg ist. Administrative Bereiche brauchen eine formelle Absiche- rung, die ja nicht nur Ausdruck eines sturen Verwaltungsap- parats ist, sondern auf langjährigem Erfahrungswissen und sinnvollen Normsetzungen basiert. Für jede Veränderung gibt es einen individuell passenden Prozess, der erarbeitet werden muss. Eine generelle Gebrauchsanweisung für den Wandel gibt es nicht. Sonst hätten wir längst schon eine Change-App. Beim Nachdenken über Spannungsfelder helfen Sie Ihren Lesern mit „Leitfragen“ Welche wären das beim Thema „Agilität“? Claßen: Wenn ich mich auf drei Leitfragen beschränken muss, dann wären das folgende: 1.Können, dürfen und wollen die Mitarbeiter agil sein? 2.Wird mit Agilität die per- sönliche Verantwortung verwässert? 3.Wie werden agile Freigeister an die lange Leine genommen? Übrigens stelle ich nicht nur Leitfragen, sondern gebe im Buch auch kon- krete Antworten. Von welchen Vordenkern wurden Sie beeinflusst? Claßen: Ein sanfter Mentor, der mich in jungen Jahren zur Ambiguitätstoleranz ermunterte, war Andreas Remer von der Universität Bayreuth. Er beschäftigte sich theoretisch und empirisch mit dem Management sozialer Systeme. Dabei ging es Remer um die Frage, wie das abgewogene Zusammenspiel gegenläufiger Maßnahmen zum lang- fristigen Überleben eines Unternehmens beiträgt. Dass man Widersprüche zum Ausgangspunkt von Entschei- dungen machen kann, habe ich auch von den kanadischen Managementgurus Henry Mintzberg und Roger Martin gelernt. Martin hat es mit „Opposable Mind“ sogar an die Spitze der Vordenker-Rangliste „Thinkers 50“ geschafft. Interview: Martin Pichler Martin Claßen. Er füllt den Satz „Es kommt darauf an“ mit Substanz.
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==