Wirtschaft und Weiterbildung 11/12 2020
46 wirtschaft + weiterbildung 11/12_2020 Menschen eine tiefgreifende emotionale, soziale und geistige Entwicklung, die man in ihrer zeitlichen Reihenfolge sehr vereinfacht in fünf Phasen unterschei- den kann: egozentrisch, konformistisch, rational, pluralistisch und integral. Jede Entwicklungsphase ist in sich richtig und wichtig – und dennoch sind spätere Ebe- nen besser als frühere, in dem Sinne, dass sie umfassender, empathischer, vernünf- tiger oder, ganz altmodisch ausgedrückt, reifer sind. Licht- und Schattenseiten Gesunde Erwachsene durchlaufen prinzi- piell jede Phase, aber nicht jeder landet dabei auf einer integralen Ebene. Men- schen bilden einen Schwerpunkt auf oder um eine der Ebenen herum und dies führt zu sehr unterschiedlichen Weltsichten und Werte-Haltungen. Sie bilden das un- bewusste Fundament unseres Denkens, Fühlens und Handelns. Jede dieser Ebe- nen hat ihre Errungenschaften und Quali- täten, aber auch ihre Schattenseiten. Ein gesundes Ego ist überlebensnotwendig, erwachsener Egoismus ist oft destruktiv. Konformität fördert den sozialen Zusam- menhalt, kann aber auch Freiheit und Individualität unterdrücken. Rationalität bewahrt uns vor konformistischen Dog- men, kann aber auch zur Abwertung „irrationaler“ Gefühle führen. Pluralisti- sche Toleranz, Gleichberechtigung und Harmonie sind wichtige Werte in einer globalen Welt. Aber unreflektierte Tole- ranz und falsche Harmonie können eine Werden, wie die Befürworter der Sprach- hygiene behaupten, gesellschaftliche Werte wie Gleichberechtigung, Respekt und Wertschätzung durch die Regeln einer „neuen Sprache“ gefördert? Oder sind Gedanken und Sprache nicht viel- mehr, wie die Kritiker anführen, Aus- druck (und nicht Ursache) eines verän- derten Werte-Bewusstseins? Der aufgeheizte Disput ist Ausdruck eines tieferen Konflikts in modernen Gesell- schaften. Ein konstruktiver Dialog setzt Reflexionsfähigkeit, Empathie, Klarheit und Wohlwollen voraus. Das scheint selbstverständlich – ist es aber nicht. Die seit einigen Jahren verordnete Sprach- hygiene wird den selbst vorgetragenen Werten häufig nicht gerecht. Von der Ge- burt bis zum Erwachsenen durchlaufen Dialog statt vorgefertigter „Sprachhygiene“ KOMMUNIKATION. „Sprache schafft Bewusstsein“, „Worte gestalten Realität“, „Begriffe können verletzen“ – so die Befürworter der Sprachhygiene. Sie plädieren für mehr Achtung, Respekt und Gleichberechtigung in der Gesellschaft. Das klingt vernünftig und wünschenswert. Warum nicht einfach ein paar genderneutrale Pronomen lernen und auf einige Begriffe verzichten? Doch die Sache ist komplizierter, als es scheint. messen und kongresse
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