Wirtschaft und Weiterbildung 11/12 2020

wirtschaft + weiterbildung 11/12_2020 29 bardo dies nennt, keine hedonistische, sondern eine holistische Gegenwartsori- entierung haben, denn nur dann trifft man Entscheidungen, die auch langfristig tragfähig sind. Und solche Personen sind dann die von Ihnen verstärkt geforderten Gestalter? Simon: Nein. Das sind eher die top-fitten Macher oder Problemlöser, die jedes Un- ternehmen auf allen Ebenen braucht und die letztlich deren Rückgrat bilden. Die echten Gestalter haben ein anderes Profil. Inwiefern? Simon: Die Zukunft ist wie die Vergan- genheit ein psychisches Konstrukt. Eine Geschichte, die wir in unseren Köpfen erschaffen und uns selbst und anderen erzählen. Gestalter glauben an eine po- sitive Zukunft. Deshalb können sie bei Bedarf auch den Verlockungen im „Hier und Jetzt“ widerstehen und mutige Ent- scheidungen treffen. Sie haben also eine Art Zukunftsblick? Simon: Ja. Die Bereitschaft, Verantwor- tung zu übernehmen und der Wille, zu gestalten sind psychologisch betrachtet unauflösbar mit einer positiven Zukunfts- perspektive verknüpft. Doch hier gilt es, die rechte Balance zu wahren und bei aller Zukunftsorientierung die Gegenwart nicht aus dem Blick zu verlieren, auch weil hierunter oft die Achtsamkeit und Empathie leidet. Wie können Führungskräfte, die Gestalter sind oder sein möchten, nun andere Menschen für ihre Zukunftsvision gewinnen? Simon: Zunächst sollten sie sich klarma- chen, dass sie zwar ihre eigene Kontroll­ überzeugung und Zeitorientierung zum Beispiel mithilfe eines Coachs ändern können, die ihrer Mitarbeiter aber nicht. Warum? Simon: Weil diese ihre Wurzeln in deren Persönlichkeit und Biografie haben. Sie können ihre Mitarbeiter aber ihrer per- sönlichen Disposition entsprechend ein- setzen und bei ihnen vorhandene positive Tendenzen zumindest situativ verstärken. Ein wirksames Tool, um die Selbstver- antwortung zu fördern, ist zum Beispiel das Storytelling. Hierbei geht es darum, spannende Geschichten zu erzählen und zukunftsweisende Fragen zu stellen und so dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter ein Bild von Zukunft entwickeln, das sie motiviert, weil sie ein Teil hiervon sein möchten. Gerade in Marktumbruchzeiten sollten Führungskräfte in einem kontinu- ierlichen motivierenden Dialog mit ihren Mitarbeitern stehen. Wenn ihnen ihr Sto- rytelling gelingt, erwächst hieraus eine große Handlungsenergie. Und wenn diese existiert, können die Führungskräfte ihre Mitarbeiter loslassen, weil sie dann ihr Potenzial entfalten? Simon: Wenn Führen so einfach wäre, würden sich viele Führungskräfte freuen. Die Mitarbeiter sind aber in der Regel so- wohl bezüglich ihrer Kompetenz als auch Persönlichkeit sehr verschieden. Deshalb sollte das Vertrauen bzw. Los-lassen nie so weit gehen, dass der Mitarbeiter denkt: Meine Führungskraft interessiert sich nicht für mich. Es sollte also stets auch eine gewisse Kontrolle geben? Simon: Ja, denn ganz ohne Kontrolle kann bei Mitarbeitern schnell der Ein- druck entstehen, ihre Arbeit sei dem Chef egal. Kontrollieren Führungskräfte hin- gegen zu viel, kann dies als Misstrauen erlebt werden und demotivierend wirken. Und nie vergessen sollte man: Ohne Kon- trolle ist auch kein fundiertes Feedback möglich. Wieso? Simon: Um ein solches Feedback, auch positives, zu geben, muss die Führungs- kraft sich die Arbeit ansehen und diese wertschätzend kontrollieren. Ohne Kon- trolle ist nur ein oberflächliches „gut ge- macht“ möglich, das weniger Wirkung entfaltet als eine detaillierte Rückmel- dung. Hinzu kommt: Ohne eine der Per- son, Situation und Aufgabe angemessene Kontrolle keimt mit der Zeit in Teams oft ein unsoziales Verhalten auf. Diese Ge- fahr ist gerade bei virtuellen Teams groß, da bei ihnen auch die wechselseitige sozi- ale Kontrolle weitgehend entfällt. Was heißt das? Simon: Einige Mitarbeiter versuchen, die Situation zu ihren Gunsten auszunut- zen und auszuloten, wie weit sie gehen können. Ein solches Verhalten infiziert wiederum oft Kollegen und irgendwann haben die Mitarbeiter, die ihren Job ver- antwortungsbewusst machen, das Ge- fühl: „Wir sind die Dummen beziehungs- weise Exoten.“ Was auch bei ihnen zu einem Nachlassen der Motivation und Selbstverantwortung führt. Simon: Ja. Deshalb sollten Führungs- kräfte zwar mit Vertrauen führen, aber zugleich eine adäquate Kontrolle aus- üben. Diese Kontrolle darf aber nicht auf der inneren Haltung basieren „Ich will die Fehler finden“. Die Handlungsmaxime muss vielmehr sein: „Ich will sehen, wie gut der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin bzw. das Team das macht.“ Die Kontrolle der Arbeitsweise bzw. des Vorgehens und der Arbeitsergebnisse sollte also auf der Basis eines wechselseitigen Vertrauens erfolgen. Interview: Katrin Neubauer Joachim Simon. Das Interview wurde coronabedingt online geführt.

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