Wirtschaft und Weiterbildung 11/12 2020

personal- und organisationsentwicklung 26 wirtschaft + weiterbildung 11/12_2020 sagen oft „Ich konnte nichts dafür; ich habe Pech gehabt“ und leiteten aus dem Scheitern auch keine relevanten Lerner- fahrungen ab. Wirkfaktor 2: Wie ausbalanciert ist die Zeitorientierung? Menschen mit einer hohen Selbstver- antwortung haben in der Regel auch ein gut ausbalanciertes Verhältnis zur Zeit. Der US-amerikanische Psychologe Phi- lip Zimbardo beschreibt in seinem Buch „Die neue Psychologie der Zeit“ verschie- dene Orientierungen, die Menschen im Hinblick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben. Abhängig davon, wie ausgeprägt diese Orientierungen bei ihnen sind, zeigen die Menschen entwe- der mehr oder weniger Selbstverantwor- tung. • Menschen mit einer starken Vergangenheitsorientierung Diese Menschen orientieren sich bei ihren Handlungen und Entscheidungen in ers- ter Linie an Dingen, die in der Vergangen- heit funktioniert oder nicht funktioniert haben. Rituale und Mythen spielen in ihrem Leben eine wichtige Rolle, ebenso traditionelle Werte. Zimbardo unterschei- det zwei Perspektiven, aus denen Men- schen tendenziell auf die Vergangenheit blicken: eine negative und eine positive Vergangenheitsorientierung. Menschen mit einer negativen Orientierung sind der Meinung, dass ihre aktuelle Situation durch negative Erfahrungen in ihrer Ver- gangenheit geprägt ist. Sie haben über- wiegend negative Kindheitserinnerungen und sind ängstlicher und weniger acht- sam als der Bevölkerungsdurchschnitt. Zudem haben sie eine schwächer aus- geprägte Impulskontrolle. Es fällt ihnen schwerer, Selbstverantwortung zu über- nehmen, da sie aufgrund ihrer Vergan- genheitsorientierung eine externe Kon­ trollüberzeugung haben. Ihr Credo lautet: „Die Vergangenheit ist schuld an meiner Misere. Ich kann nichts dafür.“ Menschen mit einer positiven Orientie- rung verbinden mit der Vergangenheit hingegen viele positive Erlebnisse und Emotionen. Sie sind weniger ängstlich, emotional stabiler, lebensfroher und haben mehr Selbstachtung. Aufgrund die- ser Dispositionen zeigen sie auch mehr Selbstverantwortung, denn ihr zentrales Credo lautet: „Ich habe es schon ein- mal geschafft, ich werde es auch wieder schaffen.“ Durch Coaching- und Therapieangebote können Menschen, laut Zimbardo, ihre negative Vergangenheitsorientierung in eine positive umwandeln. Dies ist je- doch keine Führungsaufgabe, sondern eine Aufgabe für professionelle Coachs oder Therapeuten. Führungskräfte kön- nen jedoch eine tendenziell vorhandene positive Vergangenheitsorientierung bei ihren Mitarbeitern oder Teams verstärken – zum Beispiel, indem sie in schwierigen Situationen auf Erfolge in der Vergan- genheit verweisen: „Wie haben wir die Finanzkrise 2008 gemeistert? Wir haben damals …“ • Menschen mit einer starken Gegenwartsorientierung Solche Menschen tendieren dazu, sich auf das zu konzentrieren, was gerade ist bzw. das, was sie gerade wahrnehmen, und nicht auf das, was sein könnte oder war. Für sie ist es schwierig, Bedürfnisse aufzuschieben. Sie lassen sich leicht ablenken. Ihr Fokus liegt auf konsumie- renden Aktivitäten, die Freude bereiten oder Schmerz vermeiden. Zimbardo un- terscheidet genau drei mögliche Perspek- tiven, aus denen sie auf die Gegenwart blicken: die hedonistische, die fatalisti- sche und die holistische Gegenwartsori- entierung. Eine hedonistische Orientierung auf die Gegenwart bedeutet, den Moment auszu- kosten, ohne sich groß Gedanken um die Zukunft zu machen. Das führt zu einer eher schwach ausgeprägten Impulskon- trolle. Solche Menschen übernehmen ungern Verantwortung, da sie lediglich auf das Hier und Jetzt aus sind und sich wenig um die Konsequenzen ihres Han- delns kümmern. Ihre Lebensmaxime lau- tet recht unverblümt: „YOLO – You only live once.“ Eine fatalistische Orientierung bedeu- tet, dass Menschen keine persönlichen Einflussmöglichkeiten auf ihr Schicksal sehen. Solche Menschen gehen davon aus, dass, egal was man macht, dies ohnehin nichts bringt. Ihr Handlungs- motiv ist unmittelbarer Lustgewinn oder Schmerzvermeidung. Sie übernehmen wenig Verantwortung, da ihre Lebensma- xime lautet: „Es macht eh keinen Unter- schied. Irgendwann müssen wir ohnehin alle sterben.“ Eine positive Ausnahme bei den Optionen der Gegenwartsorientie- rung ist die holistische Orientierung: Bei ihr sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Denken und beim Entschei- den einer Person eng miteinander ver- knüpft. Alles Greifbare und Reale dieser Welt existiert für solche Menschen nur in der Gegenwart – auch der freie Wille, sich zu entscheiden, Verantwortung zu übernehmen. Menschen mit einer holis- tischen Gegenwartsorientierung handeln selbstverantwortlich und treffen verant- wortungsvolle Entscheidungen, da ihre Lebensmaxime lautet: „Ich lebe jetzt, aber ich habe aus meinen Erfahrungen gelernt und habe deshalb die Konsequen- zen im Blick.“ • Menschen mit einer starken Zukunftsorientierung Die Zukunft erleben wir wie die Vergan- genheit nie direkt. Sie ist ein psychisches Konstrukt; eine Geschichte, die wir in un- seren Köpfen erschaffen und uns selbst und anderen erzählen. Für den mensch- lichen Erfolg und die Übernahme von (Selbst-)Verantwortung ist der Glaube an eine positive Zukunft unerlässlich. Sonst würde kein Sportler trainieren und kein Mensch Zeit und Geld in seine Bildung investieren. Selbstverantwortung ist psy- chologisch unabdingbar mit einer po- sitiven Zukunftsperspektive verknüpft, denn sie erfordert nicht selten auch, den Verlockungen im „Hier und Jetzt“ zu wi- derstehen und mutige Entscheidungen zu treffen. Menschen mit einer hohen Zukunftsori- entierung sind aktiver, emotional stabiler und fleißiger als der Bevölkerungsdurch- schnitt und verfügen über eine hohe Selbstachtung. Eine übertriebene Zu- kunftsorientierung kann jedoch zur Angst führen, die Ziele nicht zu erreichen. Hie- raus kann ein negativer Zukunftsstress entstehen, unter dem zum Beispiel die Achtsamkeit und die Empathie für andere Menschen leiden. Bei Topmanagern soll dies zuweilen der Fall sein. Trotz dieser Schattenseiten: Für ein (selbst-)verant- wortliches Handeln ist eine positive Zu- kunftsorientierung unerlässlich. Führungskräfte können in mühsamer Kleinarbeit zwar ihre eigene Kontroll- überzeugung und Zeitorientierung än- R

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