Wirtschaft und Weiterbildung 11-12/2019

62 wirtschaft + weiterbildung 11/12_2019 Stefanie Hornung hot from the US Im Juli 2015 wurde eine junge, schwarze Frau namens Sandra Bland im ländlichen Texas wegen einer nichtigen Verkehrswidrigkeit von einem eif- rigen Polizisten angehalten und nach einem Wortge- fecht verhaftet. Drei Tage später beging sie in ihrer Gefängniszelle Selbstmord. Was war schiefgelau- fen, als sich diese beiden Menschen begegneten? „Talking to Strangers“ führt zu vielen Fällen von Missverständnissen und Verbrechen – darunter beispielsweise zu Jerry Sandusky, ein College- Football-Trainer, der Kinder missbrauchte und wie der Anlagebetrüger Bernie Madoff lange unentdeckt blieb. Oder zu Amanda Knox, einer amerikanischen Studentin, die nach einem Mord in Perugia fast vier Jahre unschuldig in italienischer Haft verbrachte. Gladwell beschreibt auch die Treffen Chamberlains mit Hitler, die den britischen Premier annehmen lie- ßen, dass Hitler Frieden wolle. Um zu erklären, warum es uns häufig misslingt, Fremde einzuschätzen, stützt sich der Autor auf die Theorie des „Wahrheitsmodus“: Wir neigten dazu, anzunehmen, dass unsere Mitmenschen ehrlich sind. Probleme entstünden, wenn wir den Kontext, in dem Fremde operieren, falsch verstehen und dann vom Verhalten auf den Charakter schließen. Gladwell zeigt einmal mehr, dass er brillant erzählen kann, überzeugend ist er gleichwohl nicht immer. Gerade diejenigen, die Hitler persönlich trafen, seien von ihm getäuscht worden, nicht aber dieje- nigen, die nie mit ihm zusammenkamen. Das ist geschichtlich zumindest zweifelhaft. Auch der Fall von Brock Turner, dem Stanford-Studenten, der unter Alkoholeinfluss eine bewusstlose Frau sexuell angreift, erscheint eher ein klarer Fall von Vergewal- tigung zu sein als das Ergebnis der Begegnung von Unbekannten. Fremdheit kann nicht alle Verbrechen und Kommunikationsunfälle erklären. Wie können wir Unbekannte besser verstehen? Wer einen klaren Handlungsleitfaden erwartet, wird enttäuscht. Doch das Buch führt uns plastisch vor Augen, dass wir Täuschung nur schwer erkennen, wenn jemand ehrlich zu sein scheint und sich so verhält, wie wir das erwarten. Vor allem Perso- nalverantwortliche sollten immer daran denken, wie schlecht wir darin sind, Motive von fremden Menschen zu beurteilen. Hinter der Geschichte von Sandra Bland steckt außerdem auch ein Polizist, der auf Produktivität getrimmt wird: Er soll laut Anweisung so viele Wagen wie möglich anhalten, um Straftäter zu ermitteln. Das führt uns vor Augen, dass Hierarchien, in denen Menschen mit unhinterfragten Annahmen agieren, in die Katastrophe führen können. Mit Zurückhaltung und Bescheidenheit wäre viel gewonnen. Letztlich geht es dem Autor vor allem darum: Dass wir uns von vermeintlicher Vertrautheit im Umgang mit fremden Personen nicht einlullen lassen, das Vertrauen aber auch nicht ganz verlie- ren. In einigen Unternehmen wäre die Einsicht, so banal sie erscheint, manchmal schon viel. Kommunikation Fremde angemessen beurteilen Die freie Journalistin/Reporterin Stefanie Hornung hat sich auf die Themen New Work, Personalmanagement und Diversity spezialisiert. Sie gehörte viele Jahre als Pressesprecherin zum Team der größten deutschen Personalfachmessen „Zukunft Personal“, „Personal Nord“ und „Personal Süd“. Außerdem war sie Chef- redakteurin des Onlineportals „HRM.de “. Mail: s.hornung.ma@gmail.com Foto: Ines Meier Malcolm Gladwell: „Talking to Strangers“, Little, Brown & Co. (Hachett Book Group), New York 2019, 400 Seiten, 20 Euro Fremde, die sich so verhalten, wie wir das erwarten, gelten als gut. „ „

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