Wirtschaft und Weiterbildung 11-12/2019
R wirtschaft + weiterbildung 11/12_2019 29 Dessen ungeachtet besteht aktuell in vielen Unternehmen top-down eine tiefe Verunsicherung, wenn es um die Frage geht: Wie soll unsere (Zusammen-)Arbeit künftig strukturiert sein? Sie wird insbe- sondere durch die digitale Transforma- tion der Wirtschaft und der Gesellschaft ausgelöst. Diese Verunsicherung zeigt sich auch darin, wie viele Manager in den letzten Jahren in das Mekka Silicon Valley pilgerten und welchen Widerhall manche Managementkonzepte finden. So geis- tert zum Beispiel seit einigen Jahren der Begriff „Holokratie“ (engl. „Holacracy“) durch die Managementdiskussion. Er bezeichnet eine nichthierarchische Or- ganisationsform, die allen Mitgliedern der Organisation viele Möglichkeiten der Partizipation und Selbstorganisation bietet, auf der Basis gemeinsamer über- geordneter Entscheidungen und einer hohen Transparenz der Information. Bei ihr besteht die Organisation aus einer Vielzahl von selbstständigen Einheiten, sogenannten „Holons“, die sich auf der Basis einer Verfassung zusammenschlie- ßen und ihr Regelwerk ständig optimie- ren. Die Mitglieder der „Holons“ haben keine Führungskräfte oder Vorgesetzten, die ihnen sagen, was es zu tun gilt. Sie treffen vielmehr im Rahmen der verein- barten übergeordneten Ziele die Entschei- dungen weitgehend selbst. In der Praxis wurde diese Organisations- form bisher jedoch nur in Non-Profit-Or- ganisationen und kleinen Start-ups reali- siert. Und von den zwölf Organisationen, die Frederic Laloux 2014 in seinem Buch „Reinventing Organizations“ als Beleg für die Realisierbarkeit des Konzepts nannte, kehrten zehn wieder zu einem traditio- nellen Top-down-Management zurück – viel zu groß und zahlreich waren die internen Konflikte. Selbstorganisation erfordert Führung Die zentrale Ursache hierfür ist: In grö- ßeren Organisationen steht die Arbeit der einzelnen Einheiten – egal, ob sie Arbeitsteams oder Holons heißen – stets in Zusammenhang mit übergeordneten Zielen und einer sich hieraus ergeben- den Gesamtstrategie. Und die mit ihnen verknüpften Entscheidungen müssen ge- troffen und vermittelt werden. Deshalb ist in größeren Organisationen stets eine ge- wisse Form der Hierarchie und Führung nötig. Sonst fehlen den Mitarbeitern bei ihrer Arbeit der erforderliche Halt und die nötige Orientierung, die auch für ein weitgehend selbstbestimmtes Arbeiten unabdingbar sind, und die sogenannte Selbstorganisation ist faktisch eine füh- rungslose Selbstüberlassung der Mitarbei- ter. Dass die Holokratie-Idee trotzdem auf eine so nachhaltige Resonanz stößt, zeigt, welch große Verunsicherung zumindest bei vielen Organisationsentwicklern in den Unternehmen besteht. Entsprechendes gilt für die agilen Arbeits- weisen und -methoden. Sie werden nicht selten als die Lösung aller Probleme der Unternehmen im digitalen Zeitalter prä- sentiert – unter anderem, weil auch sie auf eine weitgehende Übertragung der Entscheidungsbefugnisse auf die Mitar- beiter beziehungsweise Teams setzen, so- dass diese eigenverantwortlich handeln können. Dies setzt jedoch einen gewissen Reifegrad der Mitarbeiter und Teams vo- raus. Er muss von den Führungskräften oder vom Unternehmen gezielt gefördert werden, zum Beispiel, indem in den Ar- beitsprozess Lernschleifen integriert wer- den. In der Praxis scheitert die sogenannte agile Skalierung – also die Übertragung der agilen Arbeitsweisen und -methoden, die weitgehend aus der Softwareentwick- lung stammen, auf ganze Unternehmen – nicht nur daran, dass in manchen Un- ternehmensbereichen einige der agilen Prinzipien wie zum Beispiel das inkre- mentelle Arbeiten nur sehr bedingt re- alisierbar sind. So zum Beispiel in der industriellen Fertigung, bei der es weit- gehend darum geht, zuverlässig ein- und dasselbe Produkt zu produzieren und zwar so, dass es den Qualitätsstandards entspricht. Weit entscheidender ist: Ein agiles und somit weitgehend selbstbe- stimmtes oder -organisiertes Arbeiten setzt bei den Mitarbeitern beziehungs- weise Teammitgliedern neben einer hohen fachlichen Expertise beim Lösen gewisser Aufgaben auch eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstführung und -orga- nisation voraus. Zudem müssen sie eine hohe intrinsische Eigenmotivation haben. Dieses Fähigkeiten- und Eigenschaften- bündel ist bei vielen Mitarbeitern (noch) nicht oder nur bezogen auf gewisse (Teil-) Aufgaben gegeben. Deshalb ist ein soge- nanntes agiles Führen, das weitgehend auf eine Selbstorganisation der Mitarbei- ter setzt, im Firmenalltag ohne Vorbehalte eigentlich nur möglich … • bei Mitarbeitern, die bereits eine hohe Routine beim Bewältigen ihrer Aufga- ben haben und bei denen das Engage- ment stimmt • bei Mitarbeitern, die zum Beispiel in Teamstrukturen eingebunden sind, die gewisse bei ihnen noch vorhandene fachliche und motivationale Defizite unterstützend ausgleichen. Alle anderen benötigen eine gezielte, den Entwicklungsprozess der Mitarbeiter be- gleitende Führung, die sich – abhängig von der Situation und vom Gegenüber – in einem mal mehr und mal weniger dirigierenden sowie unterstützenden Ver- halten zeigt. Bleibt die Frage, warum fällt vielen Mitar- beitern ein weitgehend selbstbestimmtes und -organisiertes Arbeiten so schwer, obwohl nicht wenige Unternehmen in der Vergangenheit – im Rahmen ihrer KVP-, TQM- und Lean-Initiativen – bereits viele Anstrengungen unternahmen, ihre dies- bezügliche Kompetenz zu steigern? Ein zentraler Punkt ist: Viele Unternehmen vermittelten in der Vergangenheit im Rah- Uwe Reusche ist einer der bei- den Geschäfts- führer des IFSM Institut für Sales & Managementberatung, Höhr- Grenzhausen bei Koblenz, das unter anderem ein „Mindful Leadership“ genanntes Führungskräfteentwick- lungsprogramm für Manager im digi- talen Zeitalter anbietet. IFSM Institut für Sales & Managementberatung Uwe Reusche, Klaus Kissel Klostergut Besserlich 56182 Urbar bei Koblenz Tel. 0261 9623641 www.ifsm-online.com AUTOR
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