wirtschaft und weiterbildung 9/2019

grundls grundgesetz Boris Grundl 64 wirtschaft + weiterbildung 09_2019 „Haben Sie Lust, den Abschlussvortrag unseres High Potential-Development-Programms zu halten?“ Natürlich hatte ich Lust. Und wie. Die Arbeit mit außergewöhnlich Lernwilligen ist mir immer eine besondere Freude. Das Programm mit überaus beeindruckenden Inhalten dauerte zwei Jahre. Alles wurde gemessen und visualisiert: Talente, Talent- leitmotive, entwickelte Stärken, unterentwickelte Stärken, Wertedimensionen, Potenziale, Kommuni- kationsstile, Persönlichkeitsmerkmale. Alles perfekt dargestellt. Vor Ort beim Smalltalk befragte ich einen der zukünftigen Topentscheider nach seinen drei wichtigsten Stärken und wie er diese weiterzuent- wickeln gedenke. Nach längerem Schweigen kam die Antwort: „Da muss ich erst nachschauen.“ Kann passieren, dachte ich mir und wechselte das Thema. „Was sind Ihre drei wichtigsten Werte und wie passen diese zu Ihren beruflichen Zielen?“, fragte ich den Nächsten. Seine Antwort: „Da muss ich ebenfalls nachschauen.“ Ich war ernüchtert. Ein herausragender Schulungsaufwand stand einer geringen Substanz und einer beschämenden Wir- kung gegenüber. Diese Erfahrung beschreibt für mich ein aktuelles Dilemma. Wie bedeutend klare, gelebte Werte sind, versteht sich von selbst. Umso unbefriedigender ist es in meiner Arbeit oft, wie wenig Substanz hinter diesem Thema in den Firmenkulturen existiert. Frage ich etwa jemanden, was ihm im Umgang mit anderen Menschen wichtig ist, schallt es mir entgegen: „Loyalität, Respekt und Integrität.“ „Toll“, denke ich. „Entweder hat sich doch jemand richtig Gedanken gemacht oder kommt gerade frisch vom Seminar.“ Ich hake nach: „Darf ich fragen, woran Sie Integri- tät erkennen?“ Nach einiger Zeit folgt dann etwas, das ich mit dem Begriff „Nebelbank“ beschreiben würde. „Und woran erkennen Sie Loyalität und Respekt?“ Die Substanz der Antworten bleibt die gleiche. Lassen Sie uns ein Experiment wagen: Woran erkennen Sie Wertschätzung? Was ist Ihnen wich- tiger: andere wertzuschätzen oder selbst Wertschätzung zu erfahren? Woran erken- nen Sie Respekt? Was ist Ihnen wichtiger: andere zu respektieren oder respektiert zu werden? Worin unterscheiden sich Respekt und Wertschätzung? Woran machen Sie Loyalität fest? Was ist Ihnen wichtiger: dass Menschen Ihnen gegenüber oder dass Sie anderen gegenüber loyal sind? Woran erkennen Sie Vertrauen? Wollen Sie mehr vertrauen oder primär, dass man Ihnen ver- traut? Wie sicher und klar sind Sie sich in Ihren Ant- worten? Das alles sind Fragen mit einem einzigen Ziel: die tiefere Ebene hinter den Werten zu erfas- sen. Denn auf sie kommt es an. Dort entstehen die Missverständnisse oder eben der energetische Fluss einer Zusammenarbeit. Also: Geben Sie sich mit dem Benennen eines Werts, einer Idee nicht zufrieden. Fragen Sie nach. Zuerst bei sich selbst und dann bei anderen. Woran erkennen Sie zum Beispiel Agilität? Wenn dann zu viel und zu lange erklärt werden muss, ist das Thema noch nicht geistig durchdrungen. Es fehlt an Klarheit. Bitte gehören Sie zu den unbequemen geistigen Tiefbohrern. Nicht, um als weiterer Klug- scheißer (Besserwisser) mit Kritik zu glänzen. Sondern mit dem Motiv, mehr Substanz und Tiefe in das Leben aller zu bringen. Denn das brauchen wir in Zukunft: mehr Substanz und Tiefgang. Sind Sie dabei? Paragraf 78 Werde zum unbe- quemen geistigen Tiefbohrer Boris Grundl ist Managementtrainer und Inhaber der Grundl Leadership Akademie, die Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Er gilt bei Managern und Medien als „der Menschenentwickler“ (Süddeutsche Zeitung). Sein jüngstes Buch heißt „Verstehen heißt nicht einverstanden sein“ (Econ Verlag, Oktober 2017). Boris Grundl zeigt, wie wir uns von oberflächlichem Schwarz-Weiß-Denken verabschieden. Wie wir lernen, klug hinzuhören, differenzierter zu bewerten, die Perspektiven zu wechseln und unsere Sicht zu erweitern. www.borisgrundl.de Es geht darum, die tiefere Ebene hinter den Werten zu erfassen. „ „

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