wirtschaft und weiterbildung 9/2019

aktuell 12 wirtschaft + weiterbildung 09_2019 Seit Jahren berichten fast alle großen Medien meist naiv staunend über den Persönlichkeitstest „Precire“, der anhand der Tonaufzeichnung eines Gesprächs von wenigen Minuten Dauer ein Persön- lichkeitsprofil eines Menschen erstellt. „Ich kann nicht anders, als beeindruckt zu sein, denn ich finde, dass das alles stimmt“, schrieb Katrin Hum- mel im Mai 2015 in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Auch Personalmanager schwärm- ten in höchsten Tönen. Im Juli 2018 erklärte der damalige Personalchef der Talanx Versicherungen, Thomas Belker, im „Tagesspiegel“, wie fasziniert der vierköpfige Vorstand von den Ergebnissen sei. Talanx nutzte die Software, um Bewerber für den Vorstand und die beiden Führungsebenen darunter auszuwählen, sowie im Top-Management für die Weiterentwicklung der Mitarbeiter. 2018 erschien das Buch „Psychologische Diagnos- tik durch Sprachanalyse“ beim Verlag Springer Gabler in Wiesbaden. Herausgeber ist Klaus Stulle, Professor für Wirtschaftspsychologie und für Psychologische Diagnostik an der Fresenius Hoch- schule und Mitglied im Scientific Advisory Board bei Precire Technologies. In seiner Rezension schrieb Psychologie-Professor Uwe Kanning: „Aus der Perspektive der Wissenschaft bleibt vor allem der empiristische Ansatz des gesamten Unterfangens unbefriedigend.“ Man erfahre nicht, welche Fea- tures wie mit welchen Persönlichkeitsmerkmalen zusammenhingen. Das Ganze sei eine Black Box. „Dennoch wird das Buch sicherlich so manchen Laien beeindrucken und damit seinen Zweck als Marketinginstrument erfüllen“, resümierte Kanning. Doch nun machte das Testkuratorium den Mar- ketingerfolgen einen Strich durch die Rechnung (www.bdp-verband.de/binaries/content/assets/ beruf/testrezensionen/precirejobfit.pdf). Da s Diagnostik- und Testkuratorium (DTK) ist ein vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psy- chologen e. V. und von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e. V. getragenes Gremium, das es als seine Aufgabe sieht, die Öffentlichkeit vor unzu- reichenden diagnostischen Verfahren zu schützen. Es ist also eine Art „Warentest“ für psychologische Testverfahren. Ein Kernsatz aus dem DTK-Gutachten lautet: „Bei Precire handelt es sich um ein ungewöhnliches Testverfahren, das aus dem Potenzial von Methoden des maschinellen Lernens schöpft. Unverständlich ist, dass keine Testautorinnen und -autoren genannt wer- den, die mit ihrem Namen für die Qualität bürgen. Ungewöhnlich ist die schlechte Dokumenta- tion des methodischen Vorgehens.“ Weiter heißt es in der Bewertung: „Das Verhältnis von untersuchten Personen (N= 5.201) zu analysierten Variablen (564.367 Features) bei der Erstellung eines Vorher- sagemodells für psychologische Merkmale ist sehr ungünstig. Es ist nahezu unvermeidbar, dass dabei zufällig im Datensatz vorhandene Konstellationen von Features ausgebeutet werden … Vor allem fehlt ein Nachweis, dass das Verfahren eine inkremen- telle Validität gegenüber den Persönlichkeitsfrage- bogen aufweist, anhand derer es entwickelt wurde.“ Mit anderen Worten: Es ist unklar, ob Precire besser ist als herkömmliche Fragebögen. Es fehle sogar der Nachweis, dass Precire diesbezüglich den Fragebo- gen ebenbürtig sei. Insgesamt sei die psychome- trische Qualität des Verfahrens nicht hinreichend belegt. Zudem werfe es ethische und rechtliche Fragen auf. Für das Start-up „Precire Technologies“, dessen Geschäftsführer seit Mai der ehemalige Talanx- Personalvorstand Thomas Belker ist, kommt das Gutachten einer veritablen Ohrfeige gleich. Erst im Juni erhielt Precire mit dem „Big-Brother-Award“ eine wenig schmeichelhafte Auszeichnung für seine „wissenschaftlich zweifelhafte, wahrscheinlich rechtswidrige und gefährliche Sprachanalyse“. Aus der Wissenschaft Precire: Qualität des Tests nicht hinreichend belegt! Laien zeigten sich beeindruckt – aber das Testkuratorium nicht. „ „ Bärbel Schwertfeger ist Diplom-Psychologin und seit 1985 Buchautorin und freie Journalistin mit den Spezialgebieten Personalentwicklung, Coaching und Weiter- bildung. Die Münchnerin ist langjährige Autorin für „wirtschaft + weiterbildung“ und das „Personalmagazin“. Außerdem ist sie Chefredakteurin der Fachzeitschrift „Wirtschaftspsychologie aktuell“.

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