wirtschaft und weiterbildung 10/2019

wirtschaft + weiterbildung 10_2019 29 die Rote Armee Faktion reden. Das sind politische und religiöse Sekten, die mit einem sinnhaft empfunden Zweck in der Lage waren, ihre Mitglieder mit all ihren Rollenbezügen zu binden. Das klingt extrem. Kühl: Ist es auch. Deshalb denke ich, dass ein Purpose-getriebenes Unternehmen in Reinform in ganz vielen Fällen – vielleicht glücklicherweise – nicht funktionieren kann. Bei Organisationen wie Greenpeace scheint die Zweckausrichtung aber doch ganz gut zu funktionieren. Wie erklären Sie sich das? Kühl: Es gibt sicherlich Ausnahmen, die nahe an die Idealvorstellung einer Purpose-getriebenen Organisation he- rankommen – besonders sind das jene, die aus einem politischen oder religi- ösen Zweck heraus entstanden sind. Dort spielt der Sinn eine tragende Rolle. Jedoch wären sie nicht so erfolgreich, würden sie sich nicht in entscheidenden Bereichen vom Purpose entkoppeln. Hier zeigt sich eine Entwicklung, Zweck der Organisation und Motivation der Mitar- beiter zumindest teilweise zu trennen. Greenpeace ist dafür ein gutes Beispiel. Aus meiner Sicht sind sie gerade deswe- gen so einflussreich, weil sie über eine Vielzahl gut bezahlter und in eine klare Hierarchie eingebundene Mitarbeiter ver- fügen, die sie unabhängig vom Purpose schnell und flexibel einsetzen können. Robin Wood, eine Umweltschutzorgani- sation mit ähnlicher Zielsetzung, die etwa zur selben Zeit entstanden ist, agiert noch immer basisdemokratisch und ist damit lange nicht so erfolgreich. Nun ist der Purpose aber kein Phänomen gemeinnütziger Organisationen. Kühl: Das stimmt. Skurril ist, dass sich Unternehmen branchenübergreifend einen Purpose geben. Beispielsweise dass IT-Unternehmen, die stupideste Program- mierarbeiten ausführen, um irgendein Customer-Management-Programm zu optimieren, plötzlich den Purpose als wichtigstes Instrument für die Mitarbei- termotivation sehen. Funktioniert das? Kühl: In einigen Fällen überraschender- weise schon. Gerade bei Start-ups beob- achte ich, dass die Mitarbeiter wirklich daran glauben, die Welt zu verbessern – und von einem Purpose geradezu beseelt sind. Damit sind sie kurzfristig mitunter sehr erfolgreich. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen Purpose und Performance. Kühl: Es gibt Unternehmen, die den Pur- pose radikal umsetzen, die dafür da sind, dass sich ihre Mitarbeiter wohlfühlen. Doch dann stellt sich die Frage: Sind das automatisch diejenigen, die wirtschaftlich am erfolgreichsten sind oder die Kunden zufriedenstellen? Bei der Purpose-Dis- kussion wird so getan, als könnten alle Bedürfnisse, die von Mitarbeitern, Kun- den, Shareholdern, gleichzeitig befriedigt werden. Und dann soll auch noch ein gesellschaftlicher Beitrag geleistet wer- den. Das halte ich für eine naive Wunsch­ vorstellung. Und doch scheinen Unternehmen genau das zu tun. Wie erklären Sie sich das? Kühl: Ich sehe den Purpose als aktuelles Management-Gimmick in Unternehmen, eine neue Variante der Leitbild-Diskus- sion, die wir noch vor zehn Jahren ge- führt haben. Der Purpose unterscheidet sich aber doch wesentlich von der Leitbildidee. Er wird nicht übergestülpt, sondern soll die Organisation von innen heraus durchdringen. Kühl: Das hat man doch bei der Entwick- lung von Leitbildern auch schon verspro- chen. Sonst würden diese nicht so von wohlklingenden Formulierungen strot- zen. Die Diskussion über Purpose Driven Organizations reaktiviert lediglich die Leitbildprozesse, von denen viele Mit- arbeiter in Unternehmen, Verwaltungen und Krankenhäusern inzwischen ermü- det sind. Welchen Schluss ziehen Sie letzlich dar- aus? Kühl: Ich gehe jede Wette ein, dass spä- testens bei der nächsten Rezession, also in zwei, drei Jahren, niemand mehr über durch Purpose getriebene Organisatio- nen sprechen wird. Aber als gerade ak- tuelle Managementmode kann man sie selbstverständlich nutzen – beispiels- weise, um Selbstverständigungsprozesse in Organisationen durch eine aktuelles Managementkonzept zu rahmen. Viele Organisationen sollten aber ihre Sinnstif- tungspotenziale für die Mitarbeiter nicht überschätzen. Interview: Matthias Haller Organisationssoziologe. Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld und Organisationsberater bei Metaplan in Hamburg.

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